"Der Elefantenmensch " David Lynch Ein phallischer Angriff, ein - TopicsExpress



          

"Der Elefantenmensch " David Lynch Ein phallischer Angriff, ein Jahrmarkt voller Freaks und die viktorianische Doppelmoral: In John Merrick steckt ein Mensch! Der Elefantenmensch "Der Elefantenmensch" ist ein eher atypischer Film aus dem surrealen Kanon des David Lynch, weil der Regisseur hier in einem sehr sanftmütigen und versöhnlichen Tonfall all jene Traumata überwindet, die er in seinen späteren Werken auf so beklemmende Art und Weise bei seinen Zuschauern auslösen wird. Denn eigentlich gehört es doch zu einem seiner ungeschriebenen Gesetze, dass sich hinter der blendenden Schönheit des attraktiven Äußeren seiner Protagonisten die seelischen Abgründe im Inneren verbergen. Und war es nicht immer sein erklärtes Ziel, mit einer gehörigen Portion obszöner Lust am Grauen den Blick hinter die Maske des Scheins zu wagen, um das Publikum mit dem Schrecken des Kranken und Perversen zu konfrontieren? In diesem sogartigen Schattenspiel verkehren sich die üblichen Mechanismen in ihr Gegenteil, denn Lynch ist hier ausnahmsweise einmal damit beschäftigt, Ängste zu reduzieren, anstatt sie zu schüren, und dabei bedient er sich sogar der gängigen Klischees des klassischen Erzählkinos. So gibt es keine Rätselspiele um doppelte Identitäten und auch keine komplexen Handlungsstränge mit zeitlichen und räumlichen Sprüngen, sondern einen einfach konzipierten, linearen Erzählfluss, der die melodramatische Geschichte des von der Natur geschundenen John Merrick schildert, dessen verletzliche und reine Seele in einem absonderlich deformierten Körper steckt. Die äußerliche Missbildung ist auf einen Unfall seiner Mutter zurückzuführen, die einst im vierten Monat der Schwangerschaft auf einer afrikanischen Insel dem phallischen Angriff eines wilden Elefanten zum Opfer fiel. Auf einem obskuren Jahrmarkt im viktorianischen London wird Merrick nun im fahlen Schein von Gaslichtern in der Schaubude des sadistischen Mr. Bytes zwischen Zwergen, Riesen, konservierten Embryonen und mechanischen Puppen der Sensationslust jener kleinen Leute preisgegeben, die sich gerade auf der Flucht vor dem strengen Moralkodex befinden und von diesem Sammelsurium an Anomalien mit Gier in den Augen ebenso abgestoßen wie fasziniert sind. Diese beängstigende Neugier treibt auch den privilegierten Dr. Treves durch den gespenstischen Nebel dieser prekären Halbwelt. Der Anblick des entstellten Merrick wird in Treves eine lüsterne Besessenheit am Tabu auslösen, die ihn fortan nicht mehr loslässt. In einer Anatomie-Vorlesung präsentiert er Merrick seinen Studenten und stellt trotz aller physischen Defekte fest, dass Teile seiner Gliedmaßen noch voll funktionsfähig sind. Als Bytes den wehrlosen Merrick mit Schlägen traktiert, bringt Treves ihn heimlich auf einer Isolierstation im Krankenhaus unter, wo er sich gegen den Widerstand der Autoritäten mit zivilisatorischem Sendungsbewusstsein darum bemüht, Merrick in einen normalen Zustand zu versetzen. Hier bemerkt Treves, dass auch der Geist von Merrick noch intakt ist und versucht sein Vertrauen zu gewinnen, um ihn in sein bürgerliches Leben zu integrieren. Dabei spielt die Sprache eine wichtige Rolle, denn Merrick fällt die Artikulation schwer, was nicht nur mit den Deformationen in seinem Gesicht zu tun hat, sondern auch der grausamen Behandlung durch Bytes geschuldet ist. Er erlangt sie zurück, als er in der fürsorglichen Obhut von Treves seine Ängste überwindet. Der Arzt vollendet nun das, was der Mutter durch den Unfall verwehrt blieb: Merricks Menschwerdung. Für Bytes stellt der einzigartige Elefantenmensch jedoch eine existenzielle Lebensgrundlage dar, auf die er schlecht verzichten kann. Auf den ersten Blick mag es etwas verwunderlich erscheinen, dass ausgerechnet David Lynch einen Film über die voyeuristische Lust an der Sensation dreht, der das Zurschaustellen des Abnormalen und das Verletzen von Tabus anprangert, bedient sich doch gerade die Kunst seines Kinos selbst dieser Mittel. Doch er zeigt hier, dass es Grenzen gibt, die durch Anstand, Menschenwürde und den Respekt vor dem Andersartigen definiert sind, weil es sich verbietet, mit dem Elend anderer Leute Geld zu machen und sich hinter der Ungestalt in Wahrheit ein menschlicher Kern verbirgt. Zumal "Der Elefantenmensch" auch ein entlarvendes Spiegelbild der viktorianischen Scheinmoral und der Entfremdung vom Humanismus im anbrechenden Industriezeitalter reflektiert, das bei Lynch unüberhörbar den Lärm in die Welt bringt. So ist die Handlung in ein trostloses Set aus Fabrikanlagen eingebettet, deren qualmende Schornsteine permanent den Himmel verdunkeln. In dieser toten Landschaft wirkt der Mensch wie ein fremdes Wesen. Der Anblick der Freaks auf dem Jahrmarkt stellt sogar das System des Körpers als Ganzes in Frage, weil ihr physischer Defekt im krassen Gegensatz zur makellosen Perfektion der Maschinen steht, deren mechanische Bewegungen von Lynch in subtilen Bildeinwürfen immer wieder eingestreut werden. Die Angst der Gesellschaft vor dem Monströsen wird zur Projektionsfläche der inneren Angst vor der neuen Zeit, die zugleich eine Angst des Menschen ist, mit der von ihm geschaffenen Technik nicht mehr Schritt halten zu können. Ebenso ist die Angst vor den Maschinen in Merricks Träumen ein Sinnbild seiner Angst vor der Natur. So wie die Maschinen jenen Arbeiter verstümmeln, der von Treves mit besessenem Blick behandelt wird, so wurde auch Merrick von der Natur verunstaltet. Man könnte auch sagen, dass hier ganz unterschwellig eine Analogie zwischen dem evolutorischen Selektionsprozess und dem technischen Fortschritt gezogen wird, indem Lynch Natur und Technik zu zwei Seiten der gleichen Medaille macht, was man auch in der Tonspur zu hören bekommt. So wird das Hämmern und Stampfen der Maschinen unter die verwischten Zeitlupen beim Angriff des Elefanten auf die Mutter gelegt. Als Treves diesen Arbeiter operiert, meint er skeptisch, dass Maschinen etwas Furchtbares seien, weil man sie nicht zur Vernunft bringen könne. Aus dieser Zügellosigkeit zieht Lynch den Horror, der stets eine phallische Note trägt, denn die Bedrohung wird in beiden Fällen durch Stoßen suggeriert, sowohl bei dem Elefanten, als auch durch die mechanischen Bewegungen der Maschinen, die durch ihre höhere Produktivität den Menschen ebenso aus der Fabrik ausstoßen, wie Merrick von der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Die Humanität bleibt in beiden Fällen auf der Strecke. Auf diesem Jahrmarkt sind alle Ausgestoßene: Die Freaks auf der Bühne wegen ihres unnatürlichen Äußeren und die völlig verarmten Leute im Publikum aufgrund der Technik. Merrick spürt, dass es in der neuen Zeit keinen Platz mehr für Anomalien gibt. Den Respekt der Gesellschaft (zumindest des freigeistigen Kunstmilieus) hat er sich erworben. Jetzt sehnt er sich danach, so zu sterben, wie anderen Menschen schlafen, um in den pränatalen Zustand des Nichtgeborenseins zurückzukehren und (ähnlich wie Henry Spencer in "Eraserhead" oder auch der kleine Junge in "The Grandmother") den kosmischen Kreislauf aus Zeugung, Geburt, Leben und Tod zu schließen. Dieses Leitmotiv soll dann auch als Basis für Lynchs spätere Filme dienen, die fast alle ein permanentes Springen der Handlung zurück vor den Ursprung aufweisen, mit dem Ziel, von dort aus die tiefen Abgründe der Seele zu erforschen.
Posted on: Fri, 13 Sep 2013 14:27:28 +0000

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