01.12.2013 Was mir so durch den Kopf geht… Lieber Freund, lass uns heute noch einmal zurückkommen auf unsere Mütter. Die Selbstsucht deiner oder meiner Mutter ist leichter zu verstehen, wenn wir sie mit dem besitzergreifenden Interesse an uns Kindern vergleicht, wie wir es zum Beispiel bei einer übertrieben besorgten Mutter finden. Während eine Mutter bewusst glaubt, ihr Kind besonders zu lieben, hegt sie in Wirklichkeit eine tief verdrängte Feindseligkeit gegen das Objekt ihrer Fürsorge. Sie zeigt sich nach außen hin übertrieben besorgt, aber nicht weil sie ihr Kind zu sehr liebt, sondern weil sie irgendwie einen Ausgleich dafür schaffen muss, dass sie überhaupt unfähig ist zu lieben. Als ich meine Mutter am Ende ihres Lebens einmal gefragt habe, ob sie mich geliebt habe, bekam ich zur Antwort: »Natürlich habe ich dich geliebt, ich habe ja immer für dich gesorgt damit es dir gut geht«. Meine Mutter hat also auch ihre mangelnde Liebe zu uns Kindern mit einer übertriebenen Sorge und Fürsorge kaschiert. Diese selbstbetrügerische Haltung hat sie auch nach außen gelebt und bekam dafür von ihrer Umwelt eine Menge Applaus, was ihr natürlich noch mehr den ehrlichen Blick auf ihre eigene Liebesunfähigkeit verschleierte und ihr dadurch ein Selbstbild vorgegaukelt wurde, in das sie sich rasend verliebte. Dieses selbstgeschaffene Selbstbildnis wird heute von der Psychoanalyse mit dem Begriff der Selbstlosigkeit beschrieben, die wir bei nicht wenigen Menschen beobachten können. Diese selbstlosen Menschen leiden gewöhnlich an Erscheinungsformen ihrer »Krankheit«, wie etwa Niedergeschlagenheit, Unlust, körperliches und geistig-seelisches Müdesein, an einer Unfähigkeit sich geistig und körperlich produktiv zu betätigen, am Scheitern von und am Verzicht auf Liebesbeziehungen. Wobei der Verzicht auf Liebesbeziehungen bei meiner Mutter der höchste Ausdruck von Selbstlosigkeit war. Ihr Lieblingssatz lautete: »Nach dem frühen Unfalltod eures Vaters habe ich so viele Möglichkeiten gehabt mich in einer Partnerschaft neu zu binden, aber wegen euch Kindern habe ich auf mein persönliches Glück verzichtet und war nur für euch da«. In diesem Satz lag die ganze Wahrheit ihrer Liebesunfähigkeit und deren Tarnung durch ihren selbstlosen Verzicht auf Partnerschaft und Aufopferung für die Kinder. Da meine Mutter eine sehr hübsche Frau war, wurde ihr Verzicht auf Partnerschaft von der Umwelt noch höher bewertet als normal; sie war ein leuchtendes Beispiel für Selbstlosigkeit. Der solcherart Selbstlose »will nichts für sich selbst«; er »lebt nur für andere«; er ist stolz darauf, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt. Ihre Selbstlosigkeit hat meine Mutter nicht als Mangel an Liebe zu ihrer Umwelt erkennen können, denn es war im Nachhinein betrachtet ihr einziger lobenswerter Charakterzug, auf den sie wirklich stolz sein konnte. Lieber Freund, hast du dich in späteren Jahren nicht auch manchmal gewundert, dass deine und meine Mutter sich trotz ihrer Selbstlosigkeit so unglücklich fühlten und dass ihre Beziehungen zu denen, die ihnen am nächsten standen, unbefriedigend waren? Hat sich auch in deiner Familie niemand über die Ichbezogenheit deiner Mutter gewundert, die sich sicher darin geäußert hat, dass sie sich über nichts gefreut hat, dass ihre Lieblosigkeit gegenüber anderen nicht einmal vor ihr selbst Halt gemacht, dass sie mit fortschreitendem Alter ihre Feindschaft gegen das Leben offen gezeigt hat und dass sich hinter der Fassade ihrer Selbstlosigkeit eine zarte, feine und sorgsam gesponnene, aber deshalb nicht weniger reißfeste Ichbezogenheit verbarg. In der Zwischenzeit weiß ich, man kann einen solchen Menschen nur heilen, wenn man seine Selbstlosigkeit als eine Erscheinungsform seiner »Krankheit« anerkennt, um auf diese Weise seinen Mangel an geistig-seelischer Produktivität, der die Ursache sowohl seiner Selbstlosigkeit als auch seiner anderen Störungen ist, korrigieren zu können. Auszug aus meinem Buch: Wege , Ziele, Entscheidungen
Posted on: Sun, 01 Dec 2013 07:20:37 +0000
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