Berlinhype: Die Party der Anderen Der Hype kennt kein Ende. Wie - TopicsExpress



          

Berlinhype: Die Party der Anderen Der Hype kennt kein Ende. Wie jeden Sommer bevölkern wieder Menschen aus aller Welt die Partyzone von der Schlesischen Straße bis zum Simon-Dach-Kiez. Und es werden immer mehr. Was aber suchen sie hier? Unser Autor ist Anwohner und kennt doch nicht die Antwort. Das soll sich ändern. Arthur schwärmt. „Was hier passiert, gibt es nirgendwo sonst. Dauernd wurde mir das gesagt. Nun bin ich drei Tage hier und es ist, wie ich es erhofft habe. Mehr noch als das.“ Der Ort, von dem Arthur schwärmt, ist ein beinahe mythischer Ort, dessen Ruf mittlerweile bis in die letzten Winkel der Welt getragen wurde. Dieser Ort ist Berlin. Im Besonderen: Kreuzberg. Ein Ort, der den 22-jährigen Kulturjournalisten Arthur, in London lebender Franzose, philosophisch stimmt. „Es ist wie ein Bruch im Zeit-Raum-Kontinuum. Das meine ich ernst! Du verstehst das, wenn du durch Kreuzberg läufst: Es ist ein Leben als Dionysos.“ Ich bin 33 Jahre alt, lebe seit Jahren in Kreuzberg, laufe oft durch den Kiez und doch verstehe ich nicht. Oder zumindest nicht mehr. Wir stehen auf schlammigem, vom Regen aufgeweichtem Boden, der von Bierdeckeln und Scherben übersät ist. Aus dem Club der Visionäre wummern Bässe zu uns rüber, hinter uns steht ein entkernter Bus, der mal ein paar Tage spannend war, als er aufgestellt wurde. Ein paar Meter weiter beginnt die Schlesische Straße, es ist der Beginn ­einer Partymagistrale, die über die Oberbaumbrücke und Warschauer Straße nach Friedrichshain in die Simon-Dach-Straße führt. Keine 50 Meter von der Schlesischen Straße entfernt wohne ich, bin aber kaum hier. Automatisch begebe ich mich immer in die andere Richtung, weg von den Massen. Gerate ich doch einmal hinein, bin ich verwundert. Die Faszination verschließt sich mir. Und nicht nur mir. Als ich jüngst mit meiner Tochter spät nach Hause kam und wir uns durch die überfüllte Schlesische Straße pflügten, fragte sie mich entgeistert: „Papa, was machen die alle hier?“ Ja, was machen sie hier? Bin ich zu blind, um das Besondere zu erkennen? Zu überheblich? Ich beschließe, mich darauf einzulassen, nicht mehr kopfschüttelnd am Rand zu stehen. Denn wo ich bisher austauschbare Restaurants und Touristenfallen sehe, sehen sie Coolness und das pralle Leben. Da ist der Klangkünstler aus Brisbane, auf der Suche nach der großen Freiheit. Da sind die Jugendlichen aus Paderborn, auf der Suche nach dem Loft, in dem die Darsteller der immens erfolgreichen Doku-Soap „Berlin Tag und Nacht“ angeblich leben. Sie alle finden sich hier, treffen aufeinander im überfüllten, obwohl durchschnittlichen, indischen Restaurant, trinken Cocktails für 3,90 Euro und spüren den Vibe. Diesen Hype will ich ergründen und beginne, die Menschen zu fragen. Menschen wie Arthur. Oder Joshua aus Chico in Kalifornien. Vor wenigen Minuten erst hat er Arthur im Club der Visionäre kennengelernt und schon wirken sie wie alte Freunde. „Weißt du, was der Unterschied zwischen Kalifornien und Berlin ist?“, fragt mich der 39-jährige Joshua. „Lässt du dort bei einer Party ein Glas fallen, kümmern sich gleich zehn Leute um die Scherben. Hier in Berlin kein einziger.“ Ich muss ihm zustimmen. Es ist das Prinzip Görli, dass dazu führt, dass ich meine Tochter niemals barfuß im Park rumrennen lassen würde. Für Joshua aber ist es Ausdruck eines Lebensgefühls, das sich in eine kurze Formel drücken lässt: „Kalifornien ist weniger wild als New York. Und New York ist bei weitem weniger wild als Berlin.“ Deshalb liebt Joshua diese Stadt, zum fünften Mal ist er da. Zum ersten Mal kam er 2009, an einem Sonntagmorgen, planlos, ratlos – und war sofort verliebt. Joshua hatte zuvor ein Wochenende in Amsterdam verbracht, wo er erfolglos Party und Ekstase suchte. Enttäuscht zog er weiter nach Berlin. An der Warschauer Straße angekommen, fragte er Passanten nach Feiermöglichkeiten. Er dachte an die nächsten Tage, ans nächste Wochenende. Sie schickten ihn ins Berghain. Sofort. Es war sieben Uhr morgens. Er war erst seit einer Stunde in der Stadt – und schon tanzte er. Später noch im Cassiopeia. Nach 24 Stunden kam er in seinem Hostel an. Müde und euphorisiert. Es sind Geschichten wie diese, die in die Welt getragen werden, vor Jahren schon, als Berlin noch als Geheimtipp galt, und auch heute noch. Sie sorgen für immerwährenden Nachschub an begeisterungswilligen Menschen. Dabei geht es nicht nur um endlose Partys, sondern vor allem um einen Begriff, der im Gespräch immer fällt: Freiheit. Auch Menschen wie Arthur, zum ersten Mal in Berlin, kommt er sofort in den Sinn. Lange hat er seinem neuen Kumpel Joshua zugehört, nun fügt er zur Bekräftigung hinzu: „Berlin ist ein Durchbruch für die freie Kultur. Ein Beispiel dafür, wie Menschen leben sollten.“ Das ist etwas hoch gehängt natürlich, aber Arthur meint das in seiner leicht vernebelten Euphorie sehr ernst. Dass sich dieser Hype auch auf Orte wie das Cassiopeia oder den Club der Visionäre erstreckt, die ich seit Jahren als belanglos abgetan und nicht mehr besucht habe, überrascht mich dann doch. Wie muss der Zustand der Welt außerhalb von Berlin sein, wenn hier schon das Epizentrum der Libertät vermutet wird? Oder ist das nur die Arroganz des Berlin-Veteranen, der meint, alles schon einmal gesehen zu haben, und deshalb den Glanz dieser Stadt nicht mehr wahrnimmt? Zumindest scheint es, dass der Hype um Berlin abnimmt, je vertrauter man mit der Stadt ist. Ich treffe Thomas aus Paris. Er besichtigt mit einem Freund die Cuvrybrache, einen jener sagenumwobenen Plätze, wo sich die Freiheit Berlins zu manifestieren scheint. Ein verdrecktes Gelände in Spreelage, auf dem der ehemals anarchische Charakter Kreuzbergs erhalten geblieben scheint. In Paris gibt es so etwas tatsächlich nicht, dort wird jeder Quadratzentimeter rentablen Bodens rasch verbaut. „Hier stimmt schon das Klischee der elitären Hipster-Kultur, das Pariser von Berlin haben“, sagt Thomas. Dabei könnte er das Gelände mit gutem Recht auch als verwahrloste Schutthalde bezeichnen. Vermutlich ist eine Unterscheidung aber gar nicht wichtig. Thomas war schon öfter in Berlin, anders als bei seinen Freunden ist seine Begeisterung für die Stadt unterkühlt. Er studiert Literatur, erzählt er, in diesen Kreisen gehöre der Berlin-Aufenthalt einfach dazu. „Sie kommen dann zurück und erzählen von dem Loft, in dem sie einen Sommer gewohnt haben, bei Freunden, die 14 Liebhaber haben. Solche Sachen eben.“ Und er selbst? „Meine Erwartungen sind vor allem: günstiges Bier und zwei Currywürste am Tag.“ Sein Vater ist Deutscher. Die Nähe schmälert den Überschwang, glaubt er selbst. Ähnlich ergeht es Kasia und Beste. Beide kennen Berlin gut. Sie sitzen im San Remo Upflamör in der Falckensteinstraße, dort wo die gelben Züge der U1 dekorativ Richtung Oberbaumbrücke vorbeiziehen und schon Matt Damon in einem der „Bourne“-Filme an einem Tisch saß. Kasia kommt ursprünglich aus Polen, Beste aus der Türkei, beide leben in Stuttgart und sind Teil des Künstlerkollektivs „Baby schläft lan“. „Es wäre ein Traum, einen Monat im Jahr in Berlin zu sein. Ein bisschen Kraft tanken – und dann wieder zurück“, sagen sie. Sie sind Musikerinnen, nennen sich Kalashnikovduo und sind für eine Straßentour in Berlin, die ihre Freundin Paula aus Danzig mit der Kamera dokumentiert. Dafür ist Berlin perfekt: besondere Orte finden, an denen sie spielen können. Das kann die Oberbaumbrücke sein, die Toilette vom San Remo oder die Bar gegenüber, in der sie spontan auftreten dürfen. Aber als Musiker sich hier zu etablieren, das ist schwierig: zu viele Künstler, zu viel Konkurrenz. „Alle gehen nach Berlin, alle meine Freunde“, sagt Kasia. Sie selbst hat eine größere Distanz: „Hier sind mehr Menschen als Möglichkeiten. Zum Arbeiten ist Stuttgart besser.“ Und Beste ergänzt: „Es ist schöner, als Tourist in Berlin zu sein, als hier zu leben.“ Dabei ist genau das der Wunsch, den viele Touristen spontan verspüren, die nach Berlin kommen: in Berlin leben. Hanna aus Seattle zum Beispiel. Nachdem ich mich über Spree und Warschauer Straße durch das Partyvolk gedrängt habe, treffe ich sie am Rande der Simon-Dach-Straße, dem Berliner Pendant zur Schinkenstraße in Mallorca. Bis zur Jahrtausendwende noch eine studentisch geprägte Wohnstraße, hat sie sich mit den Jahren zu einer gesichtslosen Flaniermeile gewandelt. Ein Unort, den ich seit Jahren meide. Hanna sieht aber auch hier vor allem eins: ein großes Freiheitsversprechen. Vor einigen Minuten ist sie 24 Jahre alt geworden, nun steht sie mit ein paar Freunden vor einem Späti und trinkt Bier. Sie ist Tänzerin, gemeinsam mit ihren kanadischen Freunden Robert und Yann war sie auf einem Festival im brandenburgischen Stolzenhagen, jetzt erkundet sie Berlin. „Ich habe Fantasien, hierherzuziehen“, erzählt sie. Die Stadt sei anders als alles, was sie kenne. Besser. „Ich habe es mir weltstädtischer vorgestellt. Das macht es aber interessant: Berlin ist offen – in geografischer wie auch emotionaler Hinsicht.“ Und sei es nur das Bier, das sie gerade auf offener Straße trinke. „In Seattle würde ich dafür verhaftet werden.“ Das sind kleine Freiheiten, die man nicht mehr wahrnimmt, wenn man zu lange in Berlin lebt. Vermutlich auch, weil sich die Prioritäten verschieben. Dann werden bezahlbare Mieten wichtiger als die große Ungezwungenheit. Ich kenne aber auch das Gefühl, Dinge neu schätzen zu lernen, wenn man einige Zeit im Ausland verbracht hat. Vielleicht war ich einfach zu lange nicht mehr weg. Mittlerweile ist es spät geworden. Zu spät für die Simon-Dach-Straße zumindest. Während Hanna und ihre Freunde sich aufgeregt zu wappnen beginnen, für was auch immer Großartiges die Nacht bringen möge, zieht es mich weiter. „Nur eins noch“, hält mich Robert auf, der Tänzerfreund von Hanna. Gerade ist ein grölender Passant an uns vorbeigezogen, vermutlich war er Auslöser für Roberts Gedankengang. „Was Berlin so besonders macht: Hier ist die Gegenkultur Teil des Alltags. In Toronto oder Seattle gibt es normale Menschen und Freaks – nichts dazwischen.“ Auch er hat vor, nach Berlin zu ziehen. Endgültig gefunkt hat es zwischen ihm und der Stadt, als er mit seinem Freund Hand in Hand über die Straße lief und ihnen eine muslimische Frau im Hidschab entgegenkam. Intuitiv wollte er die Hand loslassen, als er bemerkte, dass sie etwas Unerhörtes tat: Sie lächelte ihm zu. Ich kann mir das kaum vorstellen, vielleicht bin ich vorurteilsbehaftet. Oder es ist das Privileg eines jeden Touristen: Dinge in einem milden Licht zu betrachten. Diesen Blick des Touristen möchte ich künftig öfter einnehmen. Auf dem Rückweg schließe ich mich den Bienenschwärmen der glücklichen Menschen an und lasse mich vom Treiben auf der Warschauer Straße einlullen. Aus dem Matrix wummern die Bässe, jugendliche Horden und Frauen mit multiplen Haarfarben stehen erwartungsfroh in der Schlange. Kurz zuckt es in mir. Vielleicht finde ich dort etwas, das ich bisher nicht sehen wollte. Dann ziehe ich doch weiter. Ich kenne meine Grenzen.
Posted on: Fri, 19 Jul 2013 09:43:38 +0000

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