Die Mafia und ihre literarische Betrachtung in den Detektivromanen - TopicsExpress



          

Die Mafia und ihre literarische Betrachtung in den Detektivromanen Leonardo Sciascias Inhaltsangabe Inhaltsangabe  2 1 Einführung - erste Spurensuche zur Mafia  4 2 Phänomen Mafia: Interpretationsmöglichkeiten, Aspekte ihrer Historie  und Strukturen.  8 2.1 Mafia unter dem Aspekt der traditionellen Kultur.  9 2.2 Mafia als Unternehmen  14 2.3 Mafia als Organisation und strukturelles System.  17 2.4 Mafia als Rechtsordnung oder Staat im Staat  23 2.5 Ergebnis, Erkenntnis und aktuelle Betrachtung / Bekämpfung der  Mafia27 3 Umsetzung der Mafia-Thematik in den Detektivromanen Leonardo  Sciascias  33 3.1 Zur Person Leonardo Sciascia  33 3.2 Leonardo Sciascia und der etwas andere Detektivroman  35 3.3 Formaler Vergleich zwischen den Detektivromanen Sciascias und dem  Genre des klassischen Detektivromans  37 3.3.1 Kriterien des klassischen Detektivromans  38 3.3.2 Formaler Vergleich mit Sciascias Detektivromanen  43 3.4 Darstellung der Handlung und Protagonisten in Sciascias Mafia-  Detektivromanen - unter dem Aspekt der Genreverkehrung  47 3.4.1 Kriminalhandlung als Ausgangspunkt für die Mafia-Geschichte  47 3.4.1.1 Il giorno della civetta und die Verstrickung von Politik und Mafia  47 3.4.1.2 A ciascuno il suo - im Bann des fingierten Leidenschaftsdelikts.  51 3.4.1.3 Il contesto und die Verflechtung von Machtinteressen auf  nationalpolitischem Niveau  56 3.4.2 Figur des Detektivs als bedeutender Protagonist  59 3.4.3 Die Protagonisten der Mafia  64 3.4.4 Schilderung von Macht, Staat und Gesellschaft  67 2 3.5 Rezeption Sciascias - ergänzende literarische Aspekte und  Einflussfaktoren in seinen Texten.  73 3.6 Intentionen Sciascias: Der realistische Detektivroman und spezieller  Gebrauch des Genres als Instrument von Mafia- und Sozialkritik  79 4 Schlussbetrachtung  86 5 Bibliographie  89 3 1 Einführung - erste Spurensuche zur Mafia Mafia ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts, aber vor allem in der heutigen Zeit ein geflügeltes Wort. Nicht zuletzt aufgrund der Fantasie der Massenmedien und Filmemacher, die sich gerne dieses Stoffs bedienen, wurden so die abenteuerlichsten Geschichten in die Welt gesetzt. Dabei ist der Begriff oft ein diffus verwendeter Ausdruck für Verbrechen, organisierte Kriminalität und jegliche kriminelle Vereinigung, häufig im Zusammenhang mit Prostitution, Waffen-, Menschen- und Drogenhandel auf der ganzen Welt. Es gibt heute die so genannte Russenmafia, die türkische, die chinesische oder kolumbianische Mafia. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass die Mafia nicht nur oberflächlich unter dem Einheitsbgriff kriminelle Organisation gesehen werden kann; vielmehr noch wird sie als italienisches Phänomen wahrgenommen, als ein Mythos, dessen Ursprünge auf Sizilien zu finden sind. Ãœber die Jahrhunderte sollen sich hier besondere Werte und Strukturen der Mafia entwickelt haben, nach und nach hat sie zudem ein Gewicht in Politik und Wirtschaft bekommen und sich als einflussreicher Machtfaktor so tief verwurzelt, dass sie bis heute aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist. Mafia ist also nicht gleich Mafia. Man kann feststellen, dass es keinen klaren Einheitsbegriff Mafia gibt. Je nach Zeit und Wahrnehmung kann die Mafia eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Und selbst wenn die Literatur einen Konsens über die Ursprünge der Mafia auf Sizilien findet, so ist damit noch nicht die Materie Mafia erklärt, schon allein deshalb nicht, weil bis heute immer noch vieles im Verborgenen liegt und ungeklärt ist. Die meist im Zusammenhang mit der Mafia verwendeten Begriffe, wie Phänomen oder Mythos sprechen für sich und zeigen, dass selbst die Wissenschaft bis heute kein einheitliches Bild der Mafia gefunden hat, nicht zuletzt deshalb, weil es um eine Welt geht, in der „Schein und Wirklichkeit so leicht zu verwechseln sind“1. „Secondo l’accezione oggi prevalente, mafia corrisponderebbe a criminalità regionale siciliana (…)“2, schreibt der Italiener Salvatore Lupo, der sich viel mit der Geschichte Italiens und der Mafia beschäftigt hat. Diese besondere Kriminalität Siziliens ist es, mit der sich diese Arbeit beschäftigt. Dabei sollen 1Stille, Alexander: Die Richter. Der Tod, die Mafia und die italienische Republik, München 1997, 11. 2Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 12. 4 Erklärungen für die Ursprünge und die Entwicklung der Mafia herangezogen werden und so Licht in das Dunkel des Mythos gebracht werden. Warum es zum Beispiel unter dem Titel Mafia verschiedenste Begrifflichkeiten gibt, wie die Cosa Nostra (mit der oft die Mafia in Sizilien gemeint ist oder wie ebenso oft die Mafia in Amerika genannt wird), die Camorra in Neapel oder die ’Ndrangheta in Kalabrien. Oder warum in den Anfängen des Bewusstseins über die Mafia der damals angeklagte Mafioso Mini wahrscheinlich nicht lügt, wenn er auf die Frage, ob er Mitglied der Mafia sei, sagt: „Non so che significa“. Sicherlich kennt er zahlreiche Mafiosi, weil sie sich mafios verhalten und bestimmte mafiose Praktiken an den Tag legen. Mit dem Begriff Mafia als Geheimbund und Organisation kann er dagegen nichts anfangen.3Oder warum Leoluca Orlando, der ehemalige Bürgermeister Palermos und Mafia-Bekämpfer, in seinem 2002 erschienenen Buch „Ich sollte der nächste sein“ einen „außergewöhnliche(n) Wandel“4der Mafia auf Sizilien aber auch auf der ganzen Welt erkennt. „In der Vergangenheit galt: Mafia gleich sizilianische Mafia. Die Mafia war Sizilien, Sizilien war die Mafia. Mit der Zeit kam die Erkenntnis, dass die sizilianische Mafia nur eine Spielart der Gattung Mafia ist, neben der russischen, der chinesischen, der kolumbianischen.“5 Es bleibt festzuhalten, dass es unmöglich das einheitliche Bild der Mafia schlechthin geben kann, dass es aber sicherlich Erkenntnisse und Wahrnehmungen gibt, die erklärend herangezogen werden können. Als politisches Phänomen existiert die Mafia bis heute, sie ist anerkannt und wird zugleich problematisiert. Der Wissenschaftler Henner Hess, der als Soziologe Untersuchungen zur Mafia angestellt hat, erkennt in seinem Buch „Mafia. Ursprung, Macht und Mythos“ am Ende seines Vorwortes: „Das Phänomen mafia bleibt nach wie vor von brennender Aktualität“6. Die Forschung setzt sich ebenso mit ihr auseinander, wie die Politik und die Gesellschaft im Allgemeinen. Gleichzeitig sind die Erkenntnisse aber oft noch sehr vage, der Einblick in Struktur und Vorgehen vor allem mangels Quellen und Beweisen sehr schwer. In der Folge sind auch klare Formulierungen und Begriffsbestimmungen schwer auszumachen. Das 1982 formierte Anti-Mafia-Gesetz (Gesetz Nr. 646 des Strafgesetzbuches,codice penale),auchLegge La TorreoderLegge La Torre-Rognonigenannt, definiert die Mafia in Art. 416(-bis) sehr praxisnah: 3vgl.: Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, V. 4Orlando, Leoluca: Ich sollte der nächste sein, Freiburg 2002, 236. 5Orlando, Leoluca: Ich sollte der nächste sein, Freiburg 2002, 236. 6Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, VII. 5 L’associazione è di tipo mafioso quando coloro che ne fanno parte si avvalgono della forza di intimidazione del vincolo associativo e della condizione di assoggettamento e di omertà che ne deriva per commettere delitti, per acquisire in modo diretto o indiretto la gestione o comunque il controllo di attività economiche, di concessioni, di autorizzazioni, appalti e servizi pubblici o per realizzare profitti o vantaggi ingiusti per sé o per altri.7Das Dilemma der Diskussion über die Mafia ist damit „tutt’altro che neutralmente scientifico, visto che in Italia dal 1982 si possono emanare condanne per ‚associazione mafiosa’“8. Fest steht wohl, das zeigt die einheitliche Darstellung in der Literatur und widerspiegeln aktuelle Ereignisse: Oft als Staat im Staat oder „Para-Staat“9bezeichnet, dominiert die Mafia die italienische, vor allem die sizilianische Gesellschaft, sie setzt ihre Interessen durch und forciert durch Gewalt, Schutz und Erpressung ihre Stellung. Fest steht aber auch, dass die Reaktionen und der Umgang der Gesellschaft mit dem Phänomen Mafia bis zur heutigen Zeit sehr unterschiedlich sind und von Gleichgültigkeit und Akzeptanz bis hin zum unbeugsamen Protest und Kampf gegen die Mafia reichen; dies wird sich im Verlaufe dieser Arbeit zeigen. Gerade heute herrscht eine öffentliche Diskussion (wie zuletzt im November 2006 im Zusammenhang mit den Todesfällen und den verbrecherischen Vorfällen der Camorra in Neapel), die vor allem auch durch Intellektuelle und Autoren entfacht wird und wurde, einer davon ist Leonardo Sciascia. Der Sizilianer hat sich in mehreren Romanen, Erzählungen und Essays, seit 1979 sogar als Abgeordneter im Parlament, mit dem Problem der Mafia auseinandergesetzt. Drei seiner zentralen Detektivromane,Il giorno della civetta, A ciascuno il suoundIl contestosollen in dieser Arbeit Aufschluss auf das Bild der Mafia geben und die Kritik an der gesellschaftlichen Situation Süditaliens darstellen. Dabei wird sich zeigen, dass dem Genre des Detektivromans und seiner Umsetzung bei Sciascia eine besondere Bedeutung zukommt, dies sei hier schon erwähnt. Ziel dieser Arbeit ist es also, in einem ersten Schritt den speziellen Mythos, die Thematik Mafia anhand der wissenschaftlichen Erkenntnisse herauszuarbeiten und ihre Historie, ihre Strukturen und ihren Einfluss bis heute knapp darzustellen. In einem zweiten Schritt sollen die gewonnenen Erkenntnisse in 7vgl.: Carabba, Enzo Fileno (Hrsg.): Codice penale, Edizioni Laurus, Firenze 1982-83, 516-520. 8Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 12. 9Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, VI. 6 literaturwissenschaftlicher Hinsicht auf die Romane Leonardo Sciascias ausgeweitet werden. Es gilt, herauszustellen, wie Sciascia das Bild der Mafia in seinen Detektivromanen umsetzt und warum und wie er sich dabei des Genres des Detektivromans bedient. Hier wird sich Sciascias besondere Stellung in der italienischen und europäischen Kriminalliteratur zeigen. Abschließend können und sollen, im Vergleich zu den unterschiedlichen Ansätzen der historischwissenschaftlichen Betrachtung der Mafia, Erklärungen für Sciascias Umsetzung der Mafia-Thematik in Form seiner fiktiven Detektivromane gegeben werden. Dabei spielen seine Intentionen und seine Art der Leserlenkung eine wichtige Rolle. 7 2 Phänomen Mafia: Interpretationsmöglichkeiten, Aspekte ihrer Historie und Strukturen Wie bereits einführend dargestellt, ist es schwer und kann es auch gar nicht Ziel sein, ein einheitliches und abschließendes Bild der Mafia zu vermitteln. Die Mafia ist ein Phänomen, das je nach Blickwinkel der Betrachtung, je nach Betrachter, je nach Zeit und Umständen zu unterscheiden ist und in ihrer Bedeutung und Erscheinungsweise verschieden bewertet werden kann. Ãœber die Mafia ist auf der ganzen Welt, vor allem aber natürlich „in Italien so viel geschrieben worden, dass es Bibliotheken füllt“10. Vieles ist wissenschaftlich belegt und in vielem sind sich Forschung und Literatur einig. Genauso gibt es aber auch unterschiedliche Anschauungen und Theorien. Dabei muss betont werden, dass jeder historisch-wissenschaftliche Text letztendlich ebenso individuell, subjektiv und wertend ist, wie man es naturbedingt bei fiktiven Texten, wie beispielsweise einem Roman, eben auch bei Leonardo Sciascias Detektivromanen über die Mafia erkennt; hinzu kommt, dass die real geltenden und stattgefundenen Vorkommnisse rund um die Mafia aufgrund ihrer Dramatik und teilweisen Unglaublichkeit an sich schon wie Fiktion erscheinen. Diesen Gesichtspunkt voraussetzend sollen im Folgenden verschiedene Ansätze und Aspekte bei der Darstellung der Entwicklung und Struktur der Mafia sowie ihrer Bedeutung für Sizilien, die Politik und die Wirtschaft miteinbezogen werden. Dabei geht es nicht darum, einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erfüllen. Vielmehr sollen entscheidende Aspekte und Erkenntnisse herangezogen werden, um ein für diese Arbeit befriedigendes Bild der Mafia geben zu können. Zur Sondierung und Bestimmung des Phänomens können grobe Interpretationsmöglichkeiten zur Mafia schematisiert werden. Diese liefern gleichzeitig den nötigen und ausreichenden Aufschluss bezüglich der geschichtlichen Entwicklung und den Strukturen und Verwicklungen der Mafia. Die von Salvatore Lupo in seinem Buch „Storia della mafia“ herangezogenen Thesen erscheinen mir hier sehr sinnig und sollen daher für die folgende Einteilung maßgeblich sein. Dabei betont schon Lupo, dass es schwer ist, klare 10Uesseler, Rolf: Mafia. Mythos, Macht, Moral, Berlin / Bonn 1987, 7. 8 Trennlinien zu ziehen, und dass sich die Interpretationslinien vielmehr häufig miteinander überschneiden, dies sei an dieser Stelle vorausgeschickt. 2.1 Mafia unter dem Aspekt der traditionellen Kultur In einer ersten Herangehensweise an den Mythos Mafia können die traditionelle Kultur auf Sizilien und das sizilianische Volk an sich erklären, wie es zu dem so genannten Phänomen kam. Pino Arlacchi, der als Italiens führender Mafia- und Drogenforscher gilt und Präsident der International Association for the Study of Organized Crime (IASOC) ist, sieht die Mafia beziehungsweise den Mafioso in einer traditionellen Gesellschaft und betont die „besondere(n) Kultur, in der der Mafioso lebt“11. Von dieser traditionellen Sicht ausgehend, schreibt er: „Die Mafia ist ein Verhalten und eine Macht, nicht eine formale Organisation.“12Der Aspekt der Mafia als Organisation wird in Kapitel 2.3 näher aufgegriffen werden, so viel sei hier schon erwähnt. Zunächst geht es aber darum, die Mafia und den Mafioso als Spiegel der traditionellen Gesellschaft zu betrachten. Dabei ist es sinnvoll, die historische Entwicklung Siziliens aufzugreifen. Die Geschichte beschreibt den Süden Italiens des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als eine halbfeudale Gesellschaft, in der das Feudalsystem allmählich abgeschafft wurde, die alten Formen aber blieben. Man kann sagen, „il diritto a usare della forza, prima nelle mani dell’aristocrazia, si trasferice legalmente allo Stato, però materialmente rimane nelle mani dei privati“13, da der Staat weit weg war. Noch vor der Abschaffung des Feudalwesens waren die eigentlichen Herren auf Sizilien die landbesitzenden Barone, die Großgrundbesitzer. Sie regierten das Land uneingeschränkt, „kümmerte(n) sich kaum um die Politik des jeweiligen Oberherrn“14und nahmen sich Bauern für die Bestellung der Güter, wobei sie von ihren bewaffneten Feldwächtern, dencampierioderbravi,unterstützt und geschützt wurden. Am Ende des 18. Jahrhunderts zog es die Barone vermehrt in die Städte. Sie verpachteten ihre Ländereien an die so genanntengabellotti,Großpächter, die die Güter verwalteten, durch Bauern bestellen ließen und ihrerseits private Aufseher,braviodercampieri,zum Schutz einsetzten. Diegabellottitraten 11Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 29. 12Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 29. 13Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 45. 14Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 19. 9 somit „das Erbe der Feudalherren an“15, sie verpachteten das Land in kleinen Stücken an die Bauern weiter und entwickelten sich zu den Personen, die „die faktische Macht auf dem Land“16darstellten. Die Hierarchien waren so zu sagen festgelegt, als 1812 formal und bis zu den Zeiten der italienischen Nationalstaatsgründung 1861 in der praktischen Umsetzung der Feudalismus auf Sizilien abgeschafft wurde. Leopoldo Franchetti, der sich bereits 1876 mit dem Phänomen der Mafia beschäftigte und daher auch noch in der heutigen Zeit als wegbereitend empfunden wird, schreibt hier von einem „carattere piú democratico“17, den die Gesellschaft bekam. Sämtliche Lehen wurden von da an in Privateigentum umgewandelt, die Leibeigenschaft der Bauern wurde aufgehoben. Doch für die Bauern bedeutete die Abschaffung des Feudalwesens keine Besserung. Auf den Feudal- und Kirchengütern hatten sie noch geringe Weide- und Sammelrechte, die ihnen dann aber weggenommen wurden.18Sie blieben weiterhin und vermehrt von den Baronen abhängig, sowohl ökonomisch als auch in Hinsicht auf die oft willkürliche Rechtsprechung der Barone. Hess erkennt hier einen Hinweis, warum sich sowohl bei den Bauern als auch bei den Machthabern „das Bewusstsein der Gleichheit vor dem Gesetz (…) bis heute nicht durchsetzen“19konnte. Ebenso liege es in der Anlage der Gesellschaft der Sizilianer, dass der Einzelne, so dann auch der Mafioso, durch die Masse der übrigen auf mehr oder weniger passive Weise akzeptiert wurde.20Es findet sich also hier der Ursprung für die Fähigkeit und die Mentalität des Sizilianers, geschaffene Vorgaben zu akzeptieren. Dabei sei noch erwähnt, dass Hess neben den Baronen auch die damaligen Einrichtungen derfamiliari dell’Inquisizioneund dermaestranzeals Machtfaktoren hervorhebt. Ihnen kamen unabhängig von der staatlichen Gerichtsbarkeit besondere Befugnisse zu. Ersteren oblag etwa seit 1487 die Ãœberwachung der Gläubigen, sie hatten zahlreiche Ausnahmeregelungen und Privilegien inne, durften beispielsweise Waffen tragen. Bei letzteren, denmaestranze,handelte es sich um Handwerkerinnungen, die aufgrund ihrer militärischen Macht zu Konkurrenten der Barone wurden. Für die historische Betrachtung der Mafia im Kontext der traditionellen Kultur ist hier wohl vor allem 15Freiberg, Konrad / Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom, Hilden 1992, 41. 16Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 45. 17Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 96. 18vgl.: Freiberg, Konrad / Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom, Hilden 1992, 41. 19Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 20. 20vgl.: Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 21. 10 die Tatsache hervorzuheben, dass es solche Kooperationsstrukturen mit besonderen Machtbefugnissen überhaupt gab, und dass diese ein gemeinsames Vorgehen möglich machten.21Die Tendenz, Verbindungen zu schaffen und in der Folge über mehr Macht und Einfluss zu verfügen, könnte hier bereits erste Hinweise vor allem auf die späteren mafiosen Vereinigungen geben. Sie zeigt aber auch die Natur des Mafioso, der seinen Vorteil im Zusammenschluss mit anderen durchaus erkennt. Zunächst ist aber noch mal zu betonen, dass die Bauern durch die Privatisierung von Grund und Boden immer ausgelieferter waren und ärmer wurden. Es kam auch hier zu Vereinigungen in Form von Bauernbewegungen und es entwickelte sich ein Banditentum. „In questo schema, sembra logico pensare che la mafia valga essenzialmente ad assicurare la subordinazione dei contadini alle classi dirigenti (…)â€22, schreibt Lupo. Der traditionelle Mafioso entwickelte sich zwischen der agrarischen Macht und den Bauern, alsgabellottowirkte er vermittelnd zwischen den beiden Parteien und gewann so zunehmend an Macht.23Dergabellottonutzte die Gunst der Stunde und wusste seine Interessen richtig durchzusetzen. Er behauptete sich zunehmend gegenüber den Bauern und gegenüber den fernen Baronen. Als mächtiger Faktor vor Ort mehrte er seinen Besitz, indem er den Baronen ihre Güter abkaufte. Gleichzeitig nutzte er die Abhängigkeit der Bauern. Pino Arlacchi betont hier diese traditionell „soziale Mittelstellung“24des Mafioso, ursprünglich zwischen den fernen ländlichen Baronen und deren arbeitenden Bauern. Gerade durch seine Mittelstellung sieht der Mafioso auf der einen Seite seine Chance auf sozialen Aufstieg, zudem etabliert und funktionalisiert er sich aber vor allem als Vermittler und Schlichter von Streitigkeiten. In diesem Zusammenhang möchte sich der Mafioso Ehre verschaffen, denn der „Erfolg als uomo d’onore (beinhaltet) sehr häufig die Erlangung von Reichtum“25, so der Rückschluss. Hier wird die Mentalität des Mafioso geschaffen: „ein stolzes Bewusstsein des eigenen Ich, der Unabhängigkeit in jeder Beziehung, der Fähigkeit, sich selbst zu helfen und seine eigene Würde um jeden Preis zu verteidigen, und (als) das Bewusstsein der kavalleresken Gebundenheit an die Mitglieder der eigenen Gruppe.“26So ist die Mafia ein Verhalten und eine 21vgl.: Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 19. 22Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 17. 23vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 17, 18. 24Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 61. 25Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 60. 26Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 11. 11 Macht. Sich auf mafiose Art zu verhalten heißt, „sich ehrenhaft (onorevole) zu verhalten, und zwar in einer Weise, die den Regeln von Mut, Schlauheit, Grausamkeit und der Anwendung von Raub und Betrug entspricht“27. Arlacchi führt hier dieomertà im Kontext der traditionellen Kultur an. Diese Schweigepflicht, auf die in Kapitel 2.4 noch näher eingegangen wird, bedeute, die Fähigkeit zu haben, ein Mann zu sein. Mafios waren also die wahren Ehrenmänner, die sich innerhalb der rauen gesellschaftlichen Situation durchzusetzen vermochten. „Mörder und andere Verbrecher vor der Verfolgung staatlicher Organe zu schützen, galt als edle Handlung, denn ‚nicht die Gerechtigkeit, sondern der Lebende sollte den Toten rächen’“.28Zunächst verkörpert also dergabellottidas Idealbild des Mafioso. Als durchsetzungsstarker Großpächter schafft er es aufgrund seiner Skrupellosigkeit und Souveränität, zu Macht, Ansehen und Besitz zu kommen. Mit der Zeit hatten dann außerdem die privaten Truppen derbravieine besondere Machtposition inne, „die sowohl Feldwächter als auch Leibwächter (guarda spalle) des Herrn waren“29. Die staatliche Ordnung war fern, die verarmten und schutzlosen Bauern und Hirten wurden zur Bedrohung, „sia come banditi, sia organizzati in movimenti collettivi“30. Auch diegabellotti,die die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs sahen, erkannten, „da der rein ökonomische Weg und der Bildungsweg verschlossen bleiben, die Lösung der violenza“31. Wie bereits angedeutet, nutzten sie nach und nach ihre Mittelposition zwischen den fernen Großgrundbesitzern und den armen und faktisch immer noch sozial gebundenen Bauern. Das sah so aus, dass diegabellottiim Laufe der Zeit einen immer stärkeren Druck auf die Barone ausübten. Sie zahlten eine immer geringere Pacht an die eigentlichen Eigentümer der Ländereien, die sich in der Folge gezwungen sahen, ihre Güter an diegabellottizu verkaufen, um ihr Leben in den Städten weiterhin finanzieren zu können.32Die Landbarone wurden allmählich von dengabellottientmachtet, diese traten „das Erbe der Feudalherren“33an, „in ökonomischer als auch in herrschaftlicher Hinsicht“34. Sie übernahmen Polizeiaufgaben und 27Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 29. 28Freiberg, Konrad / Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom, Hilden 1992, 42. 29Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 43. 30Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 104. 31Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 42. 32vgl.: Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 45. 33Freiberg, Konrad / Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom, Hilden 1992, 41. 34Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 42. 12 Gerichtsbarkeit, es kam zu „Willkür und Anmaßung“35. So wie vormals die Teilpächter vom Ertrag einen Teil der Naturalien an den Besitzer abgeben mussten, so zwangen diegabellottinun die Bauern, „ihnen einen Teil der Ernte als Schutzgebühr zu zahlen“36. Dies geschah willkürlich. Wer von denbraviodercampieriSchutz wollte, musste zahlen. „Diese feudalen Rechte, die sich bis ins 20. Jahrhundert erhalten haben, sind die Urformen des mafiosen ‚u pizzu’ (…), der Tributzahlungen gegen Schutzgarantien.“37So entwickelte sich eine Gesellschaft getrieben von Furcht, Gewalt und Gegengewalt. Doch die sizilianische Bevölkerung gewöhnte sich allmählich an diesen barbarischen Zustand und sah die starken Gruppen als notweniges Ãœbel, mächtiger als die Regierung. In dieser Situation der allgegenwärtigen Revolte habe in Sizilien nicht Anarchie geherrscht, schreibt Hess, „die Morde und auch die Erpressungen müssen zum großen Teil als Sanktionen eines anderen, subkulturellen Normensystems gesehen werden (…)“38. Lupo bezieht sich hier auf Franchetti, der das Adjektiv mafios nicht nur auf Kriminelle bezieht, sondern auf jedes Individuum, „che voglia ‚fare rispettare i propri diritti (…)’ (…)“39. Gemeint sind vor allem diegabellotti,aber auch diebraviundcampieri.Die beachteten Ehrenmänner setzten sich in der Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund von Gewalt durch und brachten es somit zu Macht, Ansehen und materiellem Gewinn. Was man heute als asozial, unrecht und anarchisch bezeichnen würde, anerkannte man damals als positive Eigenschaften. Wie fest verankert diese traditionelle Subkultur war, zeigt Lupo am Beispiel des großen Mafia-Bosses der Zeit nach der italienischen Nationalstaatsgründung, Antonino Giammona, der von seinem Anwalt stolz als Mann der Ordnung beschrieben wurde.40Der Soziologe und Mafiaforscher Diego Gambetta berichtet außerdem von einem Begräbnis eines großen Mafia-Bosses, Carmelo Colletti in Ribera 1983, an dem zehntausende Menschen teilnahmen. Die große Anzahl der Trauergäste lässt hier den Rückschluss zu, wie anerkannt der Mafioso in der Bevölkerung war und welche Bedeutung er bei den Einwohnern hatte. „Chiaramente, per quante ipotesi pessimistiche si possano fare sull’ingenuità della gente, dei semplici estorsori non riceverebbero mai simili 35Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 43. 36Freiberg, Konrad / Thamm, Berndt Georg: Das Mafia-Syndrom, Hilden 1992, 41. 37Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 43, 44. 38Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 27. 39Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 74. 40vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 21. 13 testimonianze di deferenza (…).“41Kritisch bemerkt Lupo aber auch, dass dieses traditionelle Bild der vor allem durchsetzungsstarken, vermittelnden und fast schon beschützenden ehrenhaften Mafiosi, die von ihrer Umgebung akzeptiert oder gar geschätzt und verehrt wurden, bis in die heutige Zeit ganz bewusst aufrechterhalten wird; um die dunklen Seiten, beispielsweise die Skrupellosigkeit, die zur Erlangung von Ehre und auch Grund und Boden verwendet wurde, zu überdecken. „Dunque, è innanzitutto la mafia a descrivere se stessa come costume e comportamento, come espressione della società tradizionale.â€42 2.2 Mafia als Unternehmen Als anderen Aspekt zu der beschriebenen Mafia im Kontext der traditionellen Kultur sehen Literatur und Forschung das wirtschaftliche Bild der Mafia. Sowohl Pino Arlacchi als vor allem auch der Mafiaforscher Diego Gambetta sehen die Mafia als eine moderne unternehmerische Erscheinung. Arlacchi betont dabei die neue unternehmerische Mafia im Kontrast zum alten Mafioso und fragt: „Come é stata possibile una trasformatione così radicale, che ha portato figure così marcatamente tradizionali, preindustriali, a diventare l’avanguardia del neocapitalismo calabrese degli anni Settanta?“43Er legt die Ursprünge dieser neuen unternehmerischen Mafia in den 1970er Jahren fest, in einem „Umfeld eines allgemein veränderten Szenario, das von der Tendenz zu ökonomischer und sozialer Desintegration beherrscht wird“44. Die unternehmerische Mafia ist nun interessiert an der kapitalistischen Geldhäufung, an Drogengeschäften, am Profitgewinn. Dabei ergänzen sich „die neue unternehmerische Natur des Mafioso und die Rückkehr seiner primitiven kulturellen Triebe“45. Die typischen Merkmale des traditionellen, ursprünglichenuomo d’onoreoderuomo di rispetto,sein Gefallen an riskanten Unternehmen, auch seine im positiven Sinne als Durchsetzungsfähigkeit empfundene Skrupellosigkeit, kommen in der neuen Gestalt des unternehmerischen Mafioso umgewandelt zum Ausdruck und führen zu einem sich verändernden, neuen Phänomen der zu „ökonomischen Operateuren gewordenen Mafiosi“46.47 41Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 348. 42Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 21. 43Arlacchi, Pino / Geraldi, Pietro / Lamberti, Amato / Nocifora, Enzo / Tessitore, Giovanni: Mafia, ‘Ndrangheta & Camorra, Roma 1984, 38. 44Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 90. 45Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 93. 46Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 94. 14 Salvatore Lupo beschreibt diese neue unternehmerische Mafia als nun unter diesem ökonomischen Format so skrupellos, wie sie davor moderat war.48Er hält diese konträre Gegenüberstellung und strikte Trennung von altem und neuem Phänomen Mafia jedoch für nicht überzeugend. Seiner Meinung nach waren auch die alten Großpächter, diegabellotti,bereits Unternehmer, wenn auch weniger innovativ.49Lupo erkennt also keine Entwicklung aus der traditionellen Kultur heraus, in der sich der ursprünglicheonorevoleMafioso seiner typischen Eigenschaften bediente und sich in dieser zweiten Phase die neue Mafia als Unternehmung und der Mafioso als Unternehmer entwickelte. Lupo gibt vielmehr zu bedenken, ob der traditionelle Mafioso, wie ihn Arlacchi charakterisiert, überhaupt fähig ist, im modernen Sinne ein Unternehmen Mafia zu formieren; ob er also überhaupt „possa mostrare capacità imprenditoriali più complesse di quelle necessarie per l’esercizio di una tradizionale azienda agraria, le quali (…) trovano il loro corrispondente attuale nell’edilizia e nel commercio (…)“50. Die Herangehensweise Diego Gambettas an das Phänomen Mafia als Unternehmen erscheint hier schlüssiger. Er sieht die Mafia nicht als aus der traditionellen Kultur und Gesellschaft entstanden (wie das Arlacchi oder Hess nachvollziehen möchten), sondern erkennt in ihr von Anfang an eine „l’industria della protezione“51, also einen forciert wirtschaftlichen Faktor. Diese Schutzindustrie hat sich somit nicht zufällig und als Konsequenz aus dem traditionellen mafiosen Gebahren herausgebildet, sondern ist ganz bewusst geschichtlich entstanden und zieht sich bis heute durch die Zeit. Gambetta bezieht sich hier auf Leopoldo Franchetti. Auch dieser sah die Mafia „a differenza della maggior parte degli osservatori (…) come un’industria“52. Ausgehend von der langen Fremdherrschaft auf Sizilien und dem nicht zuletzt daraus entstandenen mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in den Staat, entstand eine Nachfrage nach Schutz. Die Abschaffung des Feudalwesens schuf, wie in Kapitel 2.1 bereits beschrieben, zudem den Nährboden für Banditentum, was vermehrt ein Schutzbedürfnis hervorrief und diebraviundcampieriwichtiger werden ließ. Bis heute zeigt sich, dass die Mafiosi „si offrono 47vgl.: Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 93. 48vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 22. 49vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 22. 50Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 23. 51Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 3. 52Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 96. 15 come protettori contro la criminalità “53. Man kann sagen, die Mafiosi erkannten damals diese Marktlücke der Schutzindustrie; in der Folge machten sie ihr Geschäft, sie schützten vor den Banditen, kamen so zu Macht und durch ihre geschäftstüchtigen Kontakte zu den Baronen zu Ländereien. Als Vermittler zwischen den Parteien forcierten sie auf professionelle Weise ihren Einfluss und machten sich unabkömmlich. Heute ist es nicht anders. Sie haben sich um die „servizi vari“54erweitert; das heißt unter anderem, das Unternehmen Mafia verhilft zu Bauaufträgen, schafft Kontakte in Politik und Wirtschaft und setzt sich als Schlichter von Streitigkeiten ein, wie zum Beispiel zwischen Schuldner und Gläubiger.55 Bleibt zu diskutieren inwieweit die von Gambetta dargestellte Nachfrage nach Schutz tatsächlich als wirtschaftlicher Indikator herangezogen werden kann oder nicht eher der Umkehrschluss gilt. Ob diese Nachfrage nach Schutz also wirklich existiert oder ob sie nicht erst auf erpresserische Weise (von der Mafia selbst) hergestellt wird. Vor allem das heutige Bild der Mafia als Unternehmen, das mit Drogen, Waffen und Prostitution handelt, führt zu einer geeigneten Definition der Mafia als Unternehmen, die Lupo folgendermaßen vornimmt: Er erkennt in der Mafia „un duplice modello di organizzazione“56. Auf der einen Seite finanziert sich das Unternehmen über Schutz beziehungsweise Erpressung. Auf der anderen Seite gibt es ein Netz von weiteren Geschäften von wiederum verschiedenen Organisationen, an dem die Mitglieder oder oft auch so genannte Freunde der Mafia mit ihrem Geld partizipieren können.57Dabei verschwimmt die Rolle der Mafia innerhalb der wirtschaftlichen Landschaft der sauberen und der korrupten Unternehmen, so dass es oft schwer fällt, die Strukturen nachzuvollziehen. Am Rande sei hier ein Beispiel von Gambetta erwähnt, der vom „groviglio della droga“58spricht: Wo Mafiosi zunächst die Notwendigkeit der unternehmerischen Vermittlung und des Schutzes aufgrund des kriminellen und oft undurchschaubaren Gewerbes erkannten und diese Leistungen dann ausübten, nahmen sie später zunehmend selbst aktiv den Drogenhandel auf, weil sie den damit verbundenen Profit ausmachten. Der Wandel hin zu dieser neuen unternehmerischen Mafia mit ihren unterschiedlichen Geschäften ist oft von Undurchsichtigkeit und 53Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 24. 54Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 230. 55vgl.: Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 232, 233, 234. 56Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 27. 57vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 27, 28. 58Gambetta, Diego: La mafia siciliana, Torino 1992, 330. 16 Ungenauigkeit in den Erkenntnissen geprägt, das haben die vorhergehenden Schilderungen gezeigt. Sicher ist in jedem Fall, dass es ihr um Profit geht, wie jedem anderen Unternehmen auch. Die Einsatzmöglichkeiten und Leistungen variieren, wobei festzustellen ist, dass das Unternehmen Mafia zunächst als Schutz-Dienstleister die Furcht der Menschen nutzt und schließlich seinen Vorteil aus einem vor allem traditionell entstandenen Netzwerk zieht. Gambetta glaubt hier an eine von Anfang an forciert ökonomisch ausgeprägte Mafia, das lässt sich hier noch mal wiederholen. Vor allem Arlacchi macht dagegen einen Prozess aus und sieht die Unternehmung Mafia eher naturbedingt aus der traditionellen Mentalität der Sizilianer heraus gewachsen. Beide Anschauungen zur Unternehmung Mafia sprechen für sich und überschneiden sich im Detail betrachtet sicherlich in gewisser Hinsicht. In jedem Fall lässt aber nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Mafia innerhalb der Interpretationsmöglichkeiten überhaupt als Unternehmen definieren lässt, die Frage nach einer Organisation des Phänomens aufkommen. Hier zeigt sich gleichzeitig eine weitere Möglichkeit zur Interpretation der Mafia. 2.3 Mafia als Organisation und strukturelles System Gerade die neuen Erkenntnisse über das Phänomen Mafia zeigen diese immer mehr im Lichte der organisierten Kriminalität. Die Aussagen von so genanntenpentiti,reuigen Mafiosi, wie beispielsweise Joe Valachi, Nick Gentile oder Tommaso Buscetta in den 1960er bis 1980er Jahren ermöglichten erstmals einen genaueren Einblick in die Organisationsstrukturen der Mafia. Dies war jedoch zu einem Zeitpunkt, in der die neue Mafia längst auch in den USA existierte und internationale Geschäfte, wie der oben beschriebene Drogenhandel, betrieben wurden. Auch hier ist zu betonen, dass die alte und die neue Mafia durchaus unterschiedlich betrachtet werden müssen, und dass die Bekenntnisse derpentitiin der Folge einen großen Einfluss auf die Forschung und die Debatte über die traditionelle, ursprüngliche, sizilianische Mafia nach sich gezogen haben. Der Soziologe Henner Hess stellt durchaus zur Diskussion, ob „‚die Mafia’ eine sauber gegliederte Organisation, ein Geheimbund mit Initiationsriten (…)“59ist. Seiner Meinung nach und entsprechend seinen Forschungen spiegelt diese Theorie aber weniger die Realität wider. Es sei erwähnt, dass Hess, 59Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 82. 17 ausgehend von zahlreichen Schriften und Dokumenten, der Struktur mafioser Gruppierungen sehr ausführlich auf den Grund geht. In dieser Arbeit sollen nur die wichtigsten Elemente erklärend dargestellt werden. Dabei ist festzustellen, dass laut Hess die Mafia keine Gruppe, sondern vielmehr eine „Methode“60ist; sie fällt mit einer Reihe von Einzelbeziehungen zusammen, die „der mafioso (…) mit jeweils voneinander unabhängigen Personen (…) unterhält“61. Die Beziehungen wiederum sind instabil und werden immer wieder neu gebildet, je nach Zweck und Anliegen. Diese Grundeinheit der Organisation wirdcosca,seltener auch „sodalizio, fratellanza, famiglia, compagnia, associazione, aggregato, cerchio, paracu“62, genannt. Pino Arlacchi stimmt hier mit Hess überein. Auch er glaubt an keine „hierarchische und zentralisierte Organisation, die mafia, ’ndrangheta oder ehrenwerte Gesellschaft genannt wird und deren Mitglieder durch Schwüre gegenseitiger Treue und gegenseitigen Beistands miteinander verbunden sind (…)“63. Auch für ihn existiert diecosca,als informelle und unbürokratische Zusammenarbeit einer mehr oder weniger großen Gruppe von Blutsverwandten, Freunden und Verwandten, die sich um das Charisma und das Netzwerk eines Anführers, einescapo,dreht. Vehement verneint Arlacchi die Tatsache, dass es sich um eine unbewegliche Vereinigung von Verschwörern handeln soll und beschreibt sehr anschaulich eine „Gruppe von Freunden und Verwandten, die sich wie jede andere ähnliche Einheit oft zusammenfindet, um Karten zu spielen, um auf die Jagd zu gehen, um eine Geburt oder Hochzeit zu feiern (…)“64. In ihrem Ergebnis ermöglicht es die Kooperationsverbindung odercosca,die Machtstellung zu festigen und zu erweitern. Aufgrund der mit ihr verbundenen aus der traditionellen Kultur heraus entstandenen Faktoren Ehre, Macht und Reichtum (Kapitel 2.1) wirkt sie sich positiv auf jeden Einzelnen aus. Henner Hess betont dabei noch mal, dass die Beziehungen, die eine Person an den Mafioso binden, „ganz unterschiedlicher Natur sein (können), die Skala reicht vom sachlichen Tauschverhältnis bis zur Verwandtschaft“65. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Hess im Besonderen die Beziehung zu Trägern formeller Herrschaft als so genanntespartitoherausstellt. Es ist eine spezielle 60Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 134. 61Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 83. 62Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 83. 63Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 56. 64Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1989, 58. 65Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 85. 18 Beziehung, die vor allem den Mafioso vom einfachen Banditen unterscheidet, zunehmend Einfluss schafft und laut Hess charakteristischerweise noch weniger „Gruppencharakter“66hat. Salvatore Lupo steht den geschilderten Darstellungen einer eher vagen mafiosen Vereinigung kritisch gegenüber und gibt eine Verharmlosung des Phänomens zu bedenken. Er schildert den Fall, dass der alte Mafiaboss, Paolo Campo, während der Mafiaprozesse sich zwar klar als Mafioso sieht, sich aber auch klar von den verbrecherischen Machenschaften der Mafiosi von heute distanziert. Es entspricht der in Kapitel 2.1 dargestellten Mafia-Interpretation unter traditionellem Aspekt, wenn sich Campo als vermittelnder und helfender, ehrenwerter Mafioso darstellt und auch die Anwälte der Mafiosi wohl immer wieder den traditionellen Mafioso als den Mann des Volkes hervorhoben, der nicht in der Lage sei, eine komplexe Organisation überhaupt ins Leben zu rufen. Auch hier gibt Lupo zu bedenken, dass die Mafiosi sich selbst sicher lieber im Kontext einer solchen unorganisierten und vagen Darstellung der Mafia wiedersehen, als wenn sie „come membri di pericolose associazioni criminali“67ausgemacht würden.68 Diesem (vor allem von Hess und Arlacchi) eher verharmlosenden Bild der Mafia als instabiler Zusammenschluss mehr oder weniger in der Form von Familienbanden in einer traditionellen Welt stellt Lupo in der Folge vor allem die aktuellen Erkenntnisse der neuen Mafia kritisch entgegen. „In assenza di un pentito disposto a testimoniare in giudizio, la realtà associative della mafia rimane impossibile da dimostrareâ€69, schreibt Lupo. Dabei hebt er im Besonderen die Aussagen der reumütigen Mafiosi Tommaso Buscetta, Salvatore Contorno, Antonino Calderone aus den 1960er bis 1980er Jahren hervor und vergleicht sie außerdem mit früheren Ermittlungsergebnissen, zum Beispiel des Polizeikriminologen Giuseppe Alongi und des Quästors Ermanno Sangiorgi Ende des 19. Jahrhunderts.70Es ist festzustellen, „che esiste un coordinamento tra i dirigenti di organizzazioni con la medesima base territoriale a distanza di cent’anni“71. Bereits bei Sangiorgi ist von Mafia-Kriegen die Rede, damals zwischen den Gruppen Giammona und Siino, was zumindest ein gewisses Maß an 66Hess, Henner: Mafia. Ursprung, Macht und Mythos, Freiburg 1993, 91. 67Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 32. 68vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 32. 69Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 117. 70vgl.: Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 116, 117, 118. 71Lupo, Salvatore: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri, Roma 1996, 118.
Posted on: Fri, 25 Oct 2013 19:19:50 +0000

Trending Topics



Recently Viewed Topics




© 2015