EIN TOTER AUF URLAUB. Der Gedanke, man sei eigentlich schon seit - TopicsExpress



          

EIN TOTER AUF URLAUB. Der Gedanke, man sei eigentlich schon seit längerem tot, habe aber nun einen Spalt entdeckt, durch den man jederzeit nach Belieben aus dem Totenreich hinauskönne und als Toter unentdeckt in der Welt herumspazieren, bewirkt bei mir ein federndes Gehen und ein samtenes Gefühl von Freiheit. So wie die Todesmeditationen der Buddhisten, die sich die Todesverfallenheit aller irdischen Dinge gehörig ausmalten, male ich mir umgekehrt zuerst mein Totstein aus: und zwar vor allem als das WEITERSEIN DER DINGE, das WEITERBESTEHEN DER WELT AUSZER MIR UND OHNE MICH. Und auf solche Art gewinne ich erst so richtig einen OBJEKTIVEN Blick. Wie sehr erholt sich die Welt, wenn ich mein intentionales Subjekt davon abziehe! Es ist ganz außerordentlich, wie sich die Erde, aber vor allem auch die alten Stadthäuser, die Bauerngehöfte, Kapellen, die in Waldverlorenheiten führenden eingleisigen Nebenbahnen (warum nicht ein ganzer Zug für einen einzigen Passagier, nämlich MICH?) von dieser verkrampften ichseinsollenden Machenschaft, die auch wirklich zu nichts führt, erholen. Die Bindungen an Menschen haben sich auch mit meinem Tod erledigt oder sind nun befriedet. SISTIERT. Und wie ich KEIN EINZIGES Wörtchen nun mehr schreiben kann! Keine einzige Zigarette mehr rauchen... nichts geht mehr jetzt. Schon bekomme ich aber total die Übersicht über mein Leben, wie wenn ganz frisches, neues Blut durch meine Adern schösse. Und jetzt jenes Geheimnis, das ich vor lauter Übermut nicht länger für mich behalten kann: ich habe auf einmal den Spalt entdeckt, durch den ich hinauskann... Wie lange wird das gutgehn? Also stehe ich früh auf, denn man sollte diese Zeit nutzen. Der ganze depressive Belag, der früher meine Lebensbewegungen hemmte, ist weg, die ganze Scham ist weg, der ganze innere Revanchismus - erledigt! So als Toter kann man die Dinge erst richtig sehen. Ja, es ist eine Freude zu leben... Welch ein Privileg! Ein Privileg nach beiden Richtungen hin: nach der Richtung der Toten wie der angeblich Lebenden, dieser Narren! - (In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Verteidigungsrede von Eugen Leviné: Wir Kommunisten sind alle TOTE AUF URLAUB, dessen bin ich mir bewusst. Ich weiß nicht, ob Sie mir meinen Urlaubsschein noch verlängern werden, oder ob ich einrücken muss zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Er musste einrücken: im Gefängnis Stadelheim erschossen am 5.6.1919.)
Posted on: Tue, 19 Nov 2013 10:57:05 +0000

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