Engel der Nacht Teil 6 Der Schmerz brachte mich um den - TopicsExpress



          

Engel der Nacht Teil 6 Der Schmerz brachte mich um den Verstand. Die Welt war ein wirbelndes Chaos ohne klare Farben, ohne Sinn und Verstand. Sie war kalt und dunkel und doch viel zu hell für meine Augen, vor denen Blitze aufgrellten. Ich verbrannte vor innerlicher Kälte, wollte schreien, doch kein Laut entfuhr meiner Kehle. In der linken Hand hielt ich noch immer eine letzte schwarze Feder gepackt. Ich starrte sie kurz, für mehrere Stunden an, wollte sichergehen, dass sie nicht auch verschwindet. Dass man sie mir nicht auch noch weggenommen hat. Nur langsam kehrte meine Fähigkeit des Denkens wieder zu mir zurück und jeder Gedanke war ein Peitschenschlag für meine zertrümmerte Seele. Ich war verbannt. Ich war ohne Flügel. Ich war allein. Ich war ein Krüppel. Mit den Gedanken kehrte der Schmerz zurück und ließ meinen Rücken in Flammen stehen. Ich hieß den Schmerz willkommen, der mich daran erinnerte, dass ich noch lebte. Nach einiger Zeit kehrte auch die Fähigkeit, mich zu bewegen zu mir zurück. Ich lag in einer Gasse. Es war dunkel und kalt, dreckig und nass. Jede Bewegung peinigte meinen Körper, dennoch stand ich auf, wankte, fiel auf die Knie. Eine Tonne neben mir fiel zur Seite. Mein Trommelfell wollte bersten von ihrem Donnern, das kaum lauter war als der Flügelschlag eines Vogels. Ein Vogel? Ich hob den Blick, versuchte, meine Umgebung besser zu erkennen. Das Farbenchaos wandelte sich langsam wieder zur Ordnung. Auf einer brozefarbenen Dachrinne saß ein schwarzer Vogel mit aufgeplusterten Federn, unschlüssig, ob er fliehen oder bleiben sollte. Das Sehen war anstrengend. Ich schloss die Augen, lehnte mich an die rauhe Wand, die die Gasse einengte. Alles war anstrengend. Das Riechen, das Sehen, das Atmen, das Leben. Die Dunkelheit hieß mich mit offenen Armen willkommen, als ich mich zu ihr hinabgleiten ließ. Der Vogel schlug mit den Flügeln und flog davon. Ich brauchte mehrere Tage, bis ich mich wieder soweit erholt hatte, dass ich mich unauffällig bewegen konnte. Es war eine kleine Stadt, in die ich verbannt worden bin. Die Gasse hatte nur mich und ein paar Ratten jagende Katzen als Besucher. Ich hörte die Menschen, die jenseits der Mauer lebten. Ich hörte ihr Lachen, ihr Weinen, ihre Worte, ihre Gefühle. Ich roch, was sie aßen ohne zu wissen, was es war. Ich spürte ihre hastigen, leichten, langsamen, polternden Schritte unter meinen Fingerspitzen. Erst, als ich mich mit ihnen soweit vertraut gemacht hatte, wagte ich mich aus meiner Gasse, bereit, sie auch zu sehen. Der Mond blendete mich, als ich aus der immer im Schatten liegenden Gasse trat. Als ich mich umdrehte, sah ich ein "Betreten verboten! Vergiftungsgefahr!"-Schild, dass in eine Wand der Gasse eingelassen worden war. Es war alt, doch scheinbar tat es immer noch seinen Zweck. In der Nacht war es Still. Ich mochte diese Stille der Nacht. Eine Stille, die alles umfasste und selbst das kleinste Geräusch verbot. Nur der Wind durfte sich frei unter ihr bewegen und sie weitertragen. Und ich ging mit dem Wind. Die Straßen in der Nähe meiner Gasse waren alle schlecht gebaut. Viele Stellen mangelhaft ausgebessert, andere gar nicht und mit Löchern versehen. Auch die Häuser zeugten kaum von Leben. Nur in wenigen leuchtete künstliches Licht durch die Fester. Die meisten jedoch waren dunkel hinter zum Teil zerbrochenen Scheiben, deren Scherben auf der Straße lagen. Je näher ich dem Zentrum kam, desto ansehnlicher wurde die Wohngegend. Garten und Bäume säumten die Wege, Springbrunnen zierten manche Ecken. Ich hörte nun die Stimmen der Menschen, die auch Abends noch unterwegs waren. Manche waren auf dem Weg nach Hause, andere gingen nur spazieren. Mich bemerkte niemand, wie ich mich im Schatten verborgen fortbewegte. Ich wusste nicht, ob sie mich seit meiner Verbannung sehen konnten oder ob ich für ihre Augen unsichtbar war. Doch ich wusste, dass ich Hunger hatte und Durst. Ich fand in einer kleineren Straße einen Brunnen, der in eine Wand eingelassen war. Aus dem Maul eines Löwens floss das Wasser. Das "Kein Trinkwasser"-Schild ignorierte ich und trank gierig. Erst mit dem ersten Tropfen auf den Lippen spürte ich, wie nah ich dem Verdursten bereits gekommen war. Auch mein Hunger kam so plötzlich, dass mein Magen zu schmerzen begann. Ich wischte mir den Mund mit dem ausgefranzten Ärmel meiner Jacke ab und machte mich auf die Suche nach etwas essbarem. Als ich keinen offenen Stand, wie ich es in vielen anderen Städten schon gesehen hatte, fand, erniedrigte ich mich dazu, die Mülleimer zu durchsuchen. Doch die Menschen hier waren gierig. Sie warfen nur weg, was nicht mehr verwertet werden konnte und ich auch nicht essen konnte. Doch hinter einer Bäckerei wurde ich schließlich mit hartem Brot belohnt. Ich wollte gerade danach greifen, als das Fenster über meinem Kopf aufflog. "Verschwinde du elender Dieb!" Der Bäcker schlug mit einer Holzstange nach mir. Ich duckte mich und suchte wie ein geprügelter Hund das Weite. Doch nur so weit, dass ich das Haus noch beobachten konnte. Auch ein Bäcker musste einmal schlafen gehen. Also wartete ich, bis das Licht im Inneren des Hauses erlosch und dann nochmal, bis ich mir sicher sein konnte, dass niemand mehr wach war. Erneut ging ich zu der Tonne. Doch der Bäcker war nicht so dumm, wie ich ihn gehalten hatte. Ein Eisenschloss versperrte mir den Weg. Grimmig betrachtete ich das Schloss. "Öffne." Es rührte sich nicht. Es war also wirklich so, wie ich es mir gedacht hatte. Sie hatten mir nicht nur meine Flügel, sondern auch meine Waffe der Worte genommen. Wütend ließ ich das Schloss wieder fallen. "Hast du Hunger?" Ich fuhr herum. Doch hinter mir war niemand. Ich stand allein auf der Straße. Lediglich der Wind trieb ein paar lose Blätter vor sich her. "Warte kurz." Es war eine helle Stimme und sie ertönte über mir. Ich hob den Blick und erst dachte ich, eine Flamme zu sehen. Doch das war nur das rötliche Haar eines Mädchens, das im Schein des Lichtes leuchtete. Sie war vielleicht ein bis zwei Jahre jünger als ich zum Zeitpunkt meines Todes vor vielen hunderten Jahren. Sie schloss das Fenster und das Licht wurde schwächer. Ich zog mich in den Schutz der Schatten zurück, unschlüssig, ob ich gehen oder bleiben sollte. Mein Hunger übernahm dann die Entscheidung. Es dauerte keine fünf Minuten, als die Türe aufging. Sie hatte eine helle Haut und grüne Augen. Hätte ich noch die Augen eines Shinigami, könnte ich ihre Farben sehen. Suchend sah sich das Mädchen um. Zögernd trat ich einen Schritt aus dem Schatten, genug, dass sie mich sofort entdeckte. Sie lächelte erleichtert und kam auf mich zu. Als ich etwas zurückwich, blieb sie stehen. In ihrer Hand hielt sie eine Stofftüte. "Du hast Hunger, oder?" fragte sie, erwartete aber keine Antwort. Sie hielt mir die Tüte hin. "Das ist frisches Brot, besser als das alte." Also hatte sie vorhin meinen misslungenen Diebstahl bemerkt. Als ich mich nicht bewegte, ließ sie die Hand sinken, doch das Lächeln in ihren Augen verblasste nicht. "Du musst keine Angst haben. Schau, ich leg das Brot hier hin. Du kannst es haben. Ich schenk es dir." Sie legte die Tüte ab und ging ein paar Schritte zurück, als hätte sie es mit einem wildem Tier zu tun, dass sie nicht verschrecken wollte. "Du kannst morgen wieder kommen, wenn du immer noch Hunger hast. Aber erst, wenn der Mond scheint, dann geht mein Vater schlafen." Sie lächelte. "Pass auf dich auf." Damit wandte sie sich um und verschwand wieder im Haus. Ich blieb allein in der Dunkelheit zurück, den Blick auf die Tüte gerichtet. Es war das erste Mal, dass ein Mensch mir aus freien Stücken helfen wollte. Warum fühlte es sich dabei jedoch so falsch an? Das Brot an meine Brust gepresst machte ich mich auf den Rückweg zu meiner Gasse...
Posted on: Tue, 24 Sep 2013 18:50:13 +0000

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