Ich habe vor zwei Jahren eine Geschichte geschrieben, die ich auf - TopicsExpress



          

Ich habe vor zwei Jahren eine Geschichte geschrieben, die ich auf Grund ihres verhältnismäßig geringen Umfangs nie veröffentlicht habe. Vielleicht schaffen es einige meiner FB-Freunde in der Zeit bis Weihnachten, sich diese zu Gemüte zu führen - sie heißt nämlich: EIN WEIHNACHTSWUNDER Ich wartete am diesjährigen 4. Advent auf die Reaktion eines dreizehnjährigen Mädchens namens Angelika. Dazu muss ich erklären: Ich lebe allein, befasse mich vor allem mit dem Schreiben von Geschichten, veröffentliche gelegentlich das eine oder andere Buch und kontaktiere mich per Internet mit Freunden und Bekannten, von denen ich ganz bestimmt achtzig Prozent niemals im Leben wirklich begegnen werde. Angelika war jedenfalls genauso wie ich Mitglied im Literaturportal „Book-Rix“ und hatte ihren ersten Text veröffentlicht: ein fantasievolles Märchen. „Mich freut es, wenn jemand mit dreizehn Jahren nicht nur Fantasien hat, sondern auch versucht, diese zu einer Geschichte umzuformen“, hatte ich ihr als Kommentar darunter geschrieben. „Hier und da müsstest du mal einen Absatz einbauen, dann liest man es lieber, und du solltest dir auch die Zeit nehmen, die eine oder andere Szene etwas ausführlicher zu beschreiben, aber ansonsten bin ich gespannt, was du noch so zu bieten hast, Angelika.“ Und dann hatte ich ihr, wie das bei „Book-Rix“ üblich ist, meine Freundschaft angeboten: eine reine Formsache, die aber die Bereitschaft erkennen lässt, dem anderen, vielleicht noch nicht so Profilierten gelegentlich etwas unter die Arme zu greifen. Aber Angelika hatte bis jetzt nicht geantwortet. Aus diesem Grunde war mir eben spontan das bereits erwähnte Theaterstück eingefallen – meine Lage schien genauso hoffnungslos zu sein wie die von Estragon und Wladimir, den beiden Protagonisten. Aber dann kam endlich Post von Angelika. Es war eine sehr lange Mail, behaftet mit ein paar winzigen Fehlern, aber voller Herzlichkeit. Hier der Text: „hallo großer unbekannter bekannter! ich bin erst seit zwei tagen bei Book-Rix und da bietet mir jemand seine freunschaft an? wie soll ich das den verstehen? ich bin schon seit zwei jahren in meinem heim und bisher wollte doch niemand mein freund sein. ja, du hast richtig gelesen! in einem kinderheim lebe ich, weil meine eltern bei einem verkehrsunfall ums leben gekommen sind und ich auch keine anderen verwandten mehr habe. einsam bin ich trotzdem nicht ganz, denn ich habe fredi, einen ganz süßen dakel, der mir vor ein paar wochen auf dem schulweg nachgelaufen ist und den bisher niemand vermisst hat. wenn sich bis jahresende immer noch kein besitzer gemeldet hat, darf ich ihn behalten, sagt frau christen, unsere heimleiterin. so, und jetzt soll ich auf einmal auch noch einen menschen als freund bekommen? ich habe gelesen, das du schon 73 bist. hast du denn keine enkel, mit denen du dir die zeit vertreiben kannst? wieso kommst du gerade auf mich? du weißt außerdem noch nicht einmal, wo dieses kinderheim liegt. vielleicht will ich dich dann weihnachten besuchen kommen und muss quer durch deutschland fahren bis zu meinem neuen freund. glaube bloß nicht, dass ich mir die sache nicht überlegt hätte, ich bin zwar noch lange nicht erwachsen, aber auch nicht blöd. er käme mir schon ganz recht, so ein lieber opa, der genauso bücher schreibt wie ich und den ich an die hand nehmen kann. würdest du mir denn überhaupt erlauben, dich weihnachten besuchen zu kommen? hättest du denn eine schlafgelegenheit für mich? und dürfte ich fredi mitbringen? du heißt tatsächlich siegfried wie der mann, der drachen getötet hat? und bist du auch so stark wie er? blond bist du ja nicht mehr, das habe ich auf deinem foto gesehen, aber glatze hast du auch noch keine. willst du es dir nicht noch mal überlegen mit der freundschaft? ich kann nämlich furchtbar anhänglich sein, wenn ich erst einmal jemanden richtig lieb habe. glaube ich jedenfalls. schreibst du mir bald zurück? ich warte. angelika“ Immer wieder las ich ihre Mail, und immer mehr vergrößerte sich der Wunsch, dieses bedauernswerte Geschöpf nicht zu enttäuschen. Ich stellte mir ihr bisheriges Leben vor. Ob sie wenigstens in den ersten elf Jahren ein bisschen Glück erfahren hatte? „Ich kann nämlich furchtbar anhänglich sein …“ Woher sie das nur wissen mochte? Ein Leben im Kinderheim war zwar bestimmt in der heutigen Zeit nicht mehr vergleichbar mit dem eines Oliver Twist, aber von Liebe würden derzeitige Waisenkinder bestimmt auch nicht viel zu spüren bekommen. Woher auch? Aber was war mein ursprüngliches Anliegen gewesen, als ich Angelika meine Freundschaft angeboten hatte? Sie ein wenig auf ihre orthografischen und Ausdrucksfehler aufmerksam zu machen! Und wie hatte sie es verstanden? Sollte ich womöglich auf ein Menschenkind gestoßen sein, das sich mehr erhoffte als nur diese Art von Hilfe? Oder sollte etwa …? Ich hielt verwirrt inne. Wie oft waren in den letzten Jahrhunderten ausgerechnet in der Weihnachtszeit Wunder geschehen: Menschen, die den anderen tot glaubten, waren sich wiederbegegnet, Fremde waren plötzlich zu Freunden geworden, und immer wieder waren auch am 24. Dezember Kinder zur Welt gekommen, die man als „Christkinder“ bezeichnete. Wann hatte eigentlich Angelika Geburtstag? Das musste doch auf ihrer Profilseite stehen! Wie ein Wahnsinniger hämmerte ich auf meiner Tastatur herum, klickte Angelikas Profilseite an, überflog ihre persönlichen Daten und … „24. Dezember 1995“, las ich. „Heilige Mutter Gottes!“, murmelte ich – so etwas hatte ich noch nie von mir gegeben, ich war Atheist, allerdings bei meiner Geburt getauft worden: evangelisch-lutherisch. Nie in meinem Leben hatte ich vollkommen aufgehört, an Wunder zu glauben, aber in den letzten fünfzig Jahren konnte ich mich an keins mehr erinnern, zumindest nicht an eins, das mich betroffen hätte. Sofort schrieb ich ihr: „liebe angelika!“ Ich hielt bereits wieder inne: Bedeutete „Angelika“ nicht „die Engelsgleiche“? Mögen alle die, die diese Geschichte lesen, mich mit einem Schlag in der Kartei für schwerere Fälle ablegen – ich wurde meiner Sache immer sicherer: Das Wunder konnte mir jetzt bestimmt keiner mehr ausreden! Ich setzte meine Mail fort: „wir beide werden zusammen weihnachten feiern. du musst nicht zu mir mit dem zug kommen: du sagst mir deine adresse, und ich hole dich am 24. dezember morgens ab, und dann können wir deinen 14. Geburtstag feiern, und du wirst, wenn wir die genehmigung dazu bekommen, alle feiertage bei mir bleiben. morgen gehe ich für dich shoppen, denn was junge damen in deinem alter sich wünschen, kann ich mir sehr wohl vorstellen. ich bin zwar 73, aber doch nicht alt. du wirst es merken, wenn wir uns das erste mal sehen. und ich weiß jetzt bereits, du wirst mich genauso mögen wie ich dich. dein drachentöter aus xanten.“ * Am Morgen des 24. Dezember fuhr ich in den Spreewald – Angelika lebte in einem Kinderheim in Lübben. Noch lag kein Schnee, aber der Wetterbericht hatte für heute leichte Niederschläge angekündigt, und da die Temperaturen sich in der Nähe des Gefrierpunktes bewegten, bestand die Hoffnung auf weiße Weihnachten. Das Heim befand sich am Rande eines Parks. Im Sommer war es also von reichlichem Grün umgeben, überlegte ich, während ich mein Auto abstellte und mich der Eingangstür näherte. „frag einfach nach frau christen – die weiß bescheid“, hatte mir Angelika geschrieben. Die Tür war nicht verschlossen, also konnte ich, ohne erst klingeln zu müssen, eintreten. Der Flur war weihnachtlich geschmückt – sicher Bastelarbeiten der Kinder: Vom 5. bis zum 18. Lebensjahr konnte man hier aufgenommen werden, hatte mir Angelika auch bereits verraten. Es war Frühstückszeit: Sowohl Jugendliche, die sicher zu den Heimbewohnern gehörten, als auch weibliche Angestellte liefen mit Tabletts durch die Gegend. Eine junge Frau – sie gehörte sicher zu den Insassen, die sich bereits der Entlassungsgrenze näherten – blieb neben mir stehen und fragte nach meinem Anliegen. Als ich den Namen „Christen“ erwähnte, drückte sie einem anderen Mädchen ihr Tablett in die Hand und bat mich, ihr zu folgen. Sie führte mich in den ersten Stock. Vor einer Tür mit der Aufschrift „Heimleitung“ blieben wir stehen. Ich bedankte mich bei der jungen Frau und klopfte an. Eine Antwort erfolgte nicht, also öffnete ich vorsichtig die Tür und verharrte an der Schwelle – das Zimmer war leer, aber ich hörte von nebenan Tastaturgeräusche. „Kommen Sie, bitte, weiter – ich habe nur noch zwei Minuten zu tun.“ Eine dunkelhaarige Frau in mittleren Jahren blinzelte mir durch eine modern verzierte Brille zu: „Herr Gränitz, nehme ich an? Nehmen Sie, bitte, einen Moment Platz.“ Sie zeigte auf einen Stuhl in der Ecke. Auch hier sah man, dass es Weihnachtszeit war. Heute also würde ich meinem kleinen Gast das erste Mal begegnen – ein bisschen klopfte mir schon das Herz. Ich kannte zwar Angelikas Foto, wusste, dass sie blond war und blaue Augen hatte, aber man war ja immer irgendwie überrascht, wenn einem der Betreffende plötzlich leiblich gegenüberstand – manchmal zum Positiven hin, leider aber auch oft entgegengesetzt. „So!“ Frau Christen setzte den Drucker in Gang und wandte sich wieder an mich. „Sie haben sich also vorgenommen, eins unserer Kinder über die Feiertage zu sich zu nehmen.“ Sie lächelte. „Und Sie haben sich dafür ein sehr pflegeleichtes Mädchen ausgesucht. – Sie wissen, was ich meine?“ „Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Angelika ist sehr selbständig und in der Schule Klassenbeste.“ „Das hat sie mir natürlich noch nicht erzählt.“ „Das ist mir klar – sie ist außerdem sehr bescheiden.“ Sie blätterte in einem Hefter. „Seit sie bei uns ist, hat es noch nie einen einzigen Erziehungsvermerk gegeben – nur Lob und Auszeichnungen. In ihrem Zimmer ist sie sogenannte Stubenälteste.“ Sie griff zum Telefon. „Ja, ich bin’s, Helene. Sagst du, bitte, der kleinen Hoffmann Bescheid, dass ihr Gastvater da ist? Ja, sie soll ins Büro kommen.“ Sie entnahm einer Schublade ein in Weihnachtspapier eingewickeltes Päckchen. „Vierzehn ist sie ja heute geworden!“, schmunzelte Frau Christen. „Ein sehr wichtiges Alter!“ Kurz darauf hörte ich im Nebenzimmer sich nähernde Schritte, und dann sahen mich Angelikas große Augen an. Da sie eine rotkarierte Mütze auf dem Kopf hatte und ihr langes, blondes, etwas gelocktes Haar ihr Gesicht einrahmte, hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass wirklich eine „Engelsgleiche“ vor mir stand. „Guten Morgen, Herr …“ Sie brach verlegen ab. „Hast du mir nicht erzählt, ihr sprecht euch mit ,Du‘ an?“, sagte Frau Christen sanft. Angelika nickte und hielt mir ihre kalte Hand hin – sie schien genauso aufgeregt zu sein wie ich: „Die Angelika bin ich.“ Spontan drückte ich sie an mich: „Das weiß ich doch, und ich bin dein Sagenheld. Alles Gute zum Geburtstag, Angelika.“ „Das wünsche ich dir ebenfalls.“ Frau Christen kam hinter dem Schreibtisch hervor und drückte dem Mädchen ihr Geschenk in die Hand. „Und frohe Weihnachten.“ Sie wandte sich wieder an mich. „Angelika hat zwanzig Euro mitbekommen – die soll sie auf keinen Fall wieder zurückbringen. Sorgen Sie, bitte, dafür, dass sie eine Gelegenheit zum Ausgeben bekommt.“ Angelika lächelte endlich ebenfalls einmal: „Ich weiß schon, was ich damit mache.“ Und ich sah, wie sie mit dem Kopf auf mich wies. Frau Christen zwinkerte ihr zu: „Konnte ich mir schon denken, Kleines.“ Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. „Angelika hat alle Papiere bei sich, die im Notfall erforderlich sein könnten – ich habe sie ihr gestern ausgehändigt. Aber wir wollen nicht hoffen, dass sie sie braucht. – Alles Gute euch beiden!“ Zwei Minuten später standen wir vor meinem Auto. Während Angelika ihren Mantel, der natürlich ebenfalls rotkariert war, auszog, packte ich ihre Reisetasche in den Kofferraum. „Fredi habe ich lieber doch nicht mitgenommen – er ist bei meinen Zimmerkameradinnen in guten Händen. – Wie lange fahren wir eigentlich?“, wollte sie wissen, als ich endlich neben ihr saß. „Ich hoffe, dass wir nicht in einen Stau kommen – dann brauchen wir reichlich zwei Stunden.“ Sie nickte: „Hab’ ich auch so ausgerechnet.“ Ich sah sie an: „Frau Christen hat mir erzählt, dass du schon ziemlich selbständig bist.“ Ihr Gesicht überzog sich sofort mit einem zarten Rosa: „Geht so!“ Sie drehte sich noch einmal zu dem Heim um und winkte zwei Köpfen zu, die hinter einer Glasscheibe im Erdgeschoss zu sehen waren. „Die beiden anderen Mädchen von meinem Zimmer!“, erklärte sie. „Sie haben sich zwar mit mir gefreut, waren aber trotzdem ein bisschen traurig.“ „Verstehe ich!“ Sie musterte mich von der Seite: „Einen 73-jährigen Mann habe ich mir ganz anders vorgestellt.“ „Und wie?“, lachte ich. „Na ja, du hast keinen Stock, gehst nicht mal ein bisschen krumm, wie ich gemerkt habe, bist nicht schwerhörig und …“ „Wäre dir das denn alles lieber gewesen?“ „Nein!“, beeilte sie sich zu sagen. „Ganz bestimmt nicht! – Machst du das Radio etwas lauter?“ Ich tat es. „Winter Wonderland – eins meiner Lieblingsweihnachtslieder.“ „Bist du auch in Englisch Klassenbeste?“ Angelika lachte herzlich: „Frau Christen hat dir wohl mein ganzes Leben erzählt?“ Sie wurde wieder ernst. „Ich kann machen, was ich will, ich krieg’ einfach keine schlechtere Note als Zwei zustande.“ Die letzte Zeile der Liedstrophe sang sie plötzlich leise mit: „… walking in a winter wonderland.“ „Eine schöne Stimme hast du!“ Sie hörte sofort auf zu singen, sagte aber nach einer Weile: „Ach, weißt du, ich habe mir gedacht, wenn es mit der Schriftstellerei nichts wird, werd’ ich eben Sängerin.“ Sie sah mich abwartend an, prustete aber dann los: „Du musst nicht alles glauben, was ich von mir gebe! Ich kann auch sehr real denken.“ „Davon bin ich überzeugt!“ Jetzt sang sie wieder mit, zog den Aschebecher heraus, schob ihn wieder hinein und bemerkte trocken: „Raucher bist du also auch nicht.“ „Habe ich da etwa ein wenig Bedauern herausgehört?“ „Nein, ganz bestimmt nicht! Ich habe nur gerade festgestellt, dass ich dir auf keinen Fall Zigaretten schenken kann!“ „Du musst mir gar nichts schenken!“ „Wer redet denn von ,Müssen‘? Das gehört sich einfach, wenn man zu Besuch geht, dass man eine Kleinigkeit mitbringt – noch dazu am Heiligabend.“ Sie überlegte laut. „Irgend eine schlechte Angewohnheit wirst du doch wohl haben! Jeder hat die!“ „Du auch?“ „Ja! Ich rede im Traum!“ Sie drehte das Radio wieder leiser. „Gisela und Anne erzählen mir morgens immer, was ich nachts erlebt habe.“ Ich lachte los: „Und? Was erlebst du so?“ „Meistens begegne ich Prinzen, die mich immer gleich heiraten wollen.“ „Und du möchtest das nicht?“ „Vielleicht irgendwann!“ Sie grinste. „Aber doch nicht mit vierzehn!“ „Ach, du bist auch im Traum erst vierzehn?“ „Manchmal sogar noch jünger!“ Ruckartig fuhr ihr Kopf herum. „Aber einen Whisky trinkst du doch bestimmt gelegentlich – alle alten Männer …“ Sie hielt erschreckt inne. „Sorry!“ „Du musst dich nicht entschuldigen, Angelika, ich bin nun mal etwas älter als deine Prinzen! Aber du hast Recht: Zwar keinen Whisky, aber einen Kognak trinke ich hin und wieder.“ „Und meine zwanzig Euro reichen dafür?“ „Du musst mir …“ „… nichts schenken!“ Unsere Stimmen passten wirklich ausgezeichnet zusammen. „Ob heute Vormittag noch Weihnachtsmärkte geöffnet haben?“, wollte sie jetzt wissen. „Das bezweifle ich! Nur die meisten Geschäfte natürlich.“ „Auch bei dir zu Hause?“ „Zwickau ist kein Dorf – natürlich!“ „Dann bin ich beruhigt!“ Einen Moment trat Stille ein – nur der Radiosender spulte sein Weihnachtsliederprogramm ab. „Das gefällt mir auch!“, kommentierte Angelika und stellte den Ton wieder etwas lauter. „White Christmas – weiße Weihnacht! Meinst du, dass es heute noch schneien wird?“ „Möchtest du es denn?“ „Und wie ich das möchte!“ Kaum hatte sie das gesagt, fielen die ersten Flocken gegen die Windschutzscheibe. Angelika sah mich belustigt an: „Siehst du, dass ich auch zaubern kann?“ „Nimmst du mal die Mütze ab?“, bat ich sie unwillkürlich. Sie zog mit einer flinken Bewegung ihre Kopfbedeckung ab, und das blonde Gold, das sich plötzlich ausbreitete, bedeckte nun auch ihre Stirn und fiel breit über ihren weißen Rollkragenpullover. „Angelika!“ Ich fuhr an den rechten Straßenrand und schaltete den Motor ab. „Lass mich dich anschauen!“ „Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte sie verwirrt. „Gar nichts ist mehr in Ordnung!“ Was für ein Anblick! „Gefalle ich dir auf einmal nicht mehr?“ Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Ich muss mich nur wieder mal kämmen …!“ „Wo bist du eigentlich geboren?“, fragte ich. „In der Nähe von Bielefeld, in Bethel.“ „In … Bethel?“ „In einem evangelischen Krankenhaus, hat mir meine Mutti einmal erzählt.“ Ich fuhr wieder weiter. Auf der Straße bildete sich langsam eine dünne Schneedecke – gleich würden wir aber die Autobahn erreicht haben. Im Radio spielten sie „Stille Nacht“. Natürlich hatte ich sofort den Begriff „Engelsstimme“ im Kopf, als Angelika erneut leise mitsang. Was wäre eigentlich gewesen, wenn ich Angelika nicht begegnet wäre? Meine Schwester hatte diesmal abgesagt – sie war immer an einem der Feiertage zu Besuch gekommen, aber ihrem Mann ging es zur Zeit wieder einmal gesundheitlich sehr schlecht. Und mein Bruder, der inzwischen Opa geworden war, hatte mit seiner eigenen, nun noch mehr vergrößerten Familie genügend zu tun. Also wäre ich allein gewesen, hätte im Internet gechattet, einen Glühwein getrunken, gelegentlich den Fernseher angeschaltet und darauf gewartet, dass die Tage endlich wieder vorüber gingen. „Woran denkst du gerade?“, hörte ich Angelikas Stimme. „Dass ich sehr glücklich bin, weil du bei mir bist.“ „Ich bin auch sehr glücklich!“ Sie berührte meine rechte Hand – es fühlte sich an wie der Flügel eines Schmetterlings. „Es wird bestimmt dieses Jahr ein besonders schönes Fest werden.“ Allmählich näherten wir uns Zwickau. Auf den Feldern rechts und links der Autobahn war kein dunkler Fleck mehr zu sehen – es schneite und schneite. „Denkst du daran, dass ich noch einkaufen gehen muss?“, erinnerte mich Angelika. Ich nickte: „Wir kommen an einem großen Supermarkt vorbei – dort schmeiß ich dich raus!“ „Aber nicht in den Schnee!“, lachte sie. „Natürlich nicht! – Darf ich ,Schatz‘ zu dir sagen?“ „Schatz? – Einer meiner Prinzen hat mich auch schon einmal so genannt.“ Sie lächelte still vor sich hin. „Natürlich darfst du das!“ – Als Angelika vor dem „Kaufmarkt“ ausstieg – ihre Mütze hatte sie noch nicht wieder aufgesetzt –, drehten sich sofort einige Leute nach ihr um. Ich sah bewundernde Blicke und hörte sogar: „Sieht die Kleine nicht wie das Christkind höchstpersönlich aus?“ Angelika schien es nicht gehört zu haben: Sie schnappte sich einen Einkaufswagen und war, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Nu hinter der großen Windfangtür verschwunden. Sie kam bereits nach fünf Minuten wieder heraus: „Ich hatte Glück – eine Schnellkasse hatte gerade aufgemacht!“ In der Hand trug sie mein Weihnachtsgeschenk, eingewickelt in eine Werbezeitung. „Natürlich hatten sie kein Geschenkpapier.“ Sie schüttelte ein paar Schneeflocken aus ihrer Mähne und stieg wieder ein. „Wie weit ist es jetzt noch bis zu dir?“ „Keine zehn Minuten mehr.“ * Meine Wohnung gefiel Angelika sofort. „Du hast ja sogar einen Christbaum!“, strahlte sie und berührte den Glasengel, der über der Spitze schwebte. Aber am meisten begeistert war sie von der Schaufensterpuppe, die neben dem Fernseher saß. „Sie bewacht meine Wohnung, wenn ich nicht zu Hause bin“, erklärte ich in ernstem Ton. Angelika nickte genauso ernsthaft: „Klar doch! Versteh’ ich!“ Sie sah sich um, betrachtete eingehend die Autogrammfotos an den Wänden – fast alle Schauspielerinnen kannte sie namentlich. „Aber nicht ein einziger Mann ist dazwischen!“, kritisierte sie. „Ein einziger Mann hätte die riesige Übermacht der Frauen beanstandet, also habe ich sämtlichen Männern den Zutritt verweigert.“ „Verstehe ich!“ Sie zwinkerte mir zu. „Du stehst ja logischerweise mehr auf Frauen! – Aber wo soll ich eigentlich schlafen?“ Ich zeigte auf die Couch: „Da natürlich! Die kann man ausklappen!“ „Und du?“ „Auf der Luftmatratze!“ Ich sah Angelika an. „Wenn es dir unangenehm ist, auch in der Küche.“ „Auf gar keinen Fall!“, protestierte sie und zeigte auf meinen Paravant, vor dem die Puppe saß. „Den kann man doch auch woanders aufstellen?“ „Natürlich!“ „Gut!“ Sie setzte sich: „Hast du einen Schluck Cola für mich?“ „Aber ja! Wir essen dann auch gleich!“ – Ich hatte Kartoffelsalat und Wiener vorbereitet – ein Heiligabend-Mittag-Essen, das ich von meinen Eltern übernommen hatte. Abends würde es dann Wildlachsfilet in einer Spinat-Rahmsoße mit Reis geben. „CDs hast du ja auch reichlich!“, staunte Angelika, während wir aßen. Ich sprang schnell auf: „Entschuldige! Was möchtest du hören?“ „Natürlich Weihnachtslieder!“ Wie ich überhaupt fragen konnte! Ich entschied mich für einen Sampler mit Bing Crosby, Connie Francis, Dean Martin und Rosemary Clooney. – Am Nachmittag erzählten wir uns von unserem Leben. Angelika hatte die ersten Wochen nach dem Tod ihrer Eltern in einer psychiatrischen Klinik verbringen müssen, erfuhr ich und ebenso, dass sie eine sehr glückliche Kindheit gehabt hatte. „Mein Vati war Rechtsanwalt, und meine Mutti hat als Sekretärin bei ihm gearbeitet“, erklärte sie. „Uns ging es, glaube ich, ziemlich gut. – Und nun erzähl von dir!“ – Je mehr die Zeit voranschritt, desto öfter sah Angelika auf die Uhr. Irgendwann sagte sie dann: „Du hast mir erzählt, dass ihr hier sogar einen Dom habt.“ „Ja, St. Marien! Warum fragst du?“ „Gibt es da heute keine Christmette?“ „Doch! Um zweiundzwanzig Uhr! – Möchtest du vielleicht, dass wir hingehen?“ Wie sie jetzt strahlte, wie ihre Augen leuchteten! Sie musste mir meine Frage nicht beantworten – ich wusste sofort Bescheid. Es war kurz vor sechs Uhr inzwischen geworden. „Doch vorher ist Bescherung!“ Ich erhob mich. „Und du gehst jetzt sofort in die Küche und kommst erst dann wieder herein …“ „… wenn du läutest?“ Mit zwei Schritten war sie am Weihnachtsbaum und nahm eine kleine Glocke herunter – sie gab einen winzigen, silbernen Ton von sich. „Das höre ich schon! Meine Ohren sind nämlich ganz besonders gut in Schuss! – Darf ich das kleine Radio neben dem Kühlschrank anstellen?“ „Ja!“ Sie verschwand – eine Minute später hörte ich sie laut singen. Angelika – mein Engel! Unter dem Weihnachtsbaum breitete ich Angelikas Geschenke aus. Das meiste hatte ich in einer Boutique eingekauft – eine kleine Umhängetasche befand sich darunter, ein seidenes Schaltuch und eine Sonnenbrille von Gucci, Modeschmuck einer französischen Firma und ein silberner Haarreifen, der mit hellblauen Steinen besetzt war, dazu Naschereien und eins meiner Bücher: „Das erste Mal verliebt“. Ich zündete die Kerzen an, legte „White Christmas“ auf – auch das war bei mir seit langem Tradition – und klingelte nach Angelika. Sie kann es doch gar nicht hören!, dachte ich im gleichen Moment: Im Wohnzimmer lief der CD-Player, in der Küche das Radio, und der Ton der kleinen Glocke war nicht einmal einen Meter weit zu hören. „Ich komme!“, vernahm ich jedoch deutlich Angelikas Stimme. Das Radio wurde abgeschaltet, das Mädchen schloss die Küchentür hinter sich und kam, eine Hand hinter dem Rücken versteckt, langsam näher. „Frohes Fest!“, flüsterte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf die Wange. Ich nahm ihre Hand und zog sie ins Wohnzimmer: „Dir auch ein frohes Fest, Schatz!“ Die Flasche Kognak stellte sie auf den Tisch mit der Bemerkung: „Ich hab’ noch nie sowas getrunken, aber heute kriege ich doch einen Schluck? Ich bin ja schließlich vierzehn Jahre alt geworden.“ Dann kniete sie sich vor ihren Geschenken hin. Den Haarreifen nahm sie zuerst in die Hand und rannte damit vor den Flurspiegel. Natürlich behielt ich jedes Kompliment für mich – ich hätte sie sonst schon wieder verlegen gemacht, aber ich glaube, sie sah in meinen Augen, was ich dachte. Ja, was soll ich von diesem Weihnachtsabend noch weiter erzählen? Zuerst aßen wir unseren Lachs, bereiteten uns dann auf einen nächtlichen Stadtspaziergang vor und gingen in den überfüllten Dom – und die ganze Zeit war ich mir sicher, dass ich einen Engel an meiner Seite hatte. * Am Morgen des ersten Feiertages fand ich mich nicht sofort zurecht, wo ich eigentlich war. Natürlich hatte ich heute Nacht den Paravant vor meine Luftmatratze geschoben und guckte nun dieses Gestell von hinten an. Dann fiel mir sofort das Mädchen ein. Ob sie schon wach war? Vorsichtig spähte ich um die Ecke: Angelika saß bereits angezogen auf der Couch und las in meinem Buch. „Guten Morgen!“, lächelte sie mir zu, wurde aber sofort wieder ernst. „Ich kann mir bereits denken, dass deine Geschichte nicht gut ausgeht. – Das arme Mädchen!“ Sie erhob sich. „Soll ich uns Kaffee machen? Ich habe gestern in der Küche bereits alles ausgekundschaftet.“ Selbst das wunderte mich nicht mehr! Wenn ich sie nicht bremste, würde sie nach dem Frühstück alles für ein festliches Mittagessen zusammensuchen wollen. „Weißt du denn auch schon, wo ich den Weihnachtsstollen aufbewahre?“ „War doch nicht schwer zu erraten! Natürlich auf dem Balkon.“ Ohne ein weiteres Wort ging sie aus dem Wohnzimmer, und kurz darauf hörte ich sie in der Küche hantieren. * Mittags aßen wir dann in Schöneck, bei einem guten Bekannten von mir, der dort eine Gaststätte besaß – ich hatte mich vorher telefonisch angemeldet. „Wen hast du denn mitgebracht?“, fragte er, als er einmal kurz seinen Herd verließ, um mich zu begrüßen, und musterte meine Begleiterin von oben bis unten und dann noch einmal in umgekehrter Reihenfolge. „Das ist mein Engel namens Angelika“, sagte ich. Sie nickte: „Stimmt!“ und gab Karle die Hand. „Frohes Fest!“ „Ebenfalls! Darf ich Sie mit ,Du‘ ansprechen, oder muss ich zu dir ,Sie‘ sagen?“ Sie knickste grinsend: „Sie haben die freie Auswahl, mein Herr!“ „Dann nenn’ ich dich beim Vornamen, und du sagst auch Karle zu mir.“ „Es ist mir eine Ehre – Karle!“ Mit seinem Lieblingsspruch auf den Lippen – „Ein schöner Tag!“ – verschwand er wieder in der Küche. – Nach dem Essen machten wir noch einen kleinen Spaziergang. Hier lag mindestens doppelt soviel Schnee wie in Zwickau, also war eine kleine Schneeballschlacht einfach eine Selbstverständlichkeit. Nein, falsch – es hatte ganz anders begonnen: Angelika war daran schuld gewesen! Wir waren bereits eine ganze Weile nebeneinander hergegangen, als sie sich plötzlich blitzschnell gebückt und mir eine Handvoll Schnee in den Kragen gesteckt hatte. Lachend war sie dann davongerannt. Ich hätte sie niemals eingeholt, aber sie war nach wenigen Metern freiwillig stehengeblieben, hatte sich mit ausgebreiteten Armen lachend mitten auf den Weg gestellt und gerufen: „Na los, ich weiß doch, dass ich jetzt dran glauben muss!“ Ich hatte jedoch, als ich vor ihr stand, noch immer keinen Schnee aufgenommen und mich auch jetzt nicht danach gebückt. Sie war etwas nervös geworden. „Was ist denn? Bist du mir etwa böse?“, hatte sie gefragt. „Kann man dir böse sein?“ Sie hatte mich mit großen Augen angesehen, plötzlich ihren Mund aufgerissen und geschrien: „Nein!“ Da hatte sie aber auch schon in einer Schneewehe gelegen – in der größten, die weit und breit zu sehen war. Dieser Trick stammte noch aus meiner Jugendzeit: Man stellt ein Bein hinter sein Opfer, gibt ihm einen kleinen Schubs, und schon liegt es im Schnee. Und dann war die Schneeballschlacht losgegangen, die erst wieder beendet war, als Angelika aufgab. „Hab’ keine Lust mehr – lass uns lieber wieder vernünftig sein!“, hatte sie gemeint. Worte, die eigentlich mir zugestanden hätten, gab eine Vierzehnjährige von sich. Na ja, eine normale Vierzehnjährige war sie ja schließlich nicht – ob ihr das eigentlich selbst klar war? Ich warf ihr einen Seitenblick zu: Zur Zeit war sie knallrot im Gesicht. „Ist dir warm?“, fragte ich. „Was dachtest du denn?“ Sie blieb stehen, nahm meine Hände und legte sie an ihre Wangen: „Fühl doch mal!“ Ein wunderschönes Mädchen war sie – ob nun Engel oder nicht! „Du wirst bestimmt eines Tages deinen Prinzen heiraten!“, sagte ich und hatte immer noch ihr Gesicht zwischen meinen Händen. „Aber nicht, ehe ich fünfundzwanzig bin!“ Sie dachte nach. „Da bist du …“ „Vierundachtzig!“ Sie legte ihre Hände auf meine: „Aber selbst wenn du bis dahin etwas humpeln würdest, kämst du zu meiner Hochzeit?“ „Selbstverständlich käme ich zu deiner Hochzeit.“ „Danke! Dafür bekommst du heute schon einen Kuss!“ Sie zog meinen Kopf nach unten und berührte flüchtig meinen Mund mit ihren Lippen, dann ging sie schnell weiter – ich konnte ihr kaum folgen. – Karle wollte uns zum Kaffeetrinken und „echtem vogtländischen Stollen“ einladen, aber Angelika verlangte nur nach einer großen Cola und ich nach einem kleinen Bier. Der Betrieb hatte jetzt – es ging inzwischen auf zwei Uhr zu – nachgelassen, und Karle setzte sich einen Moment mit an unseren Tisch. „Wo ist denn die junge Dame sonst zu Hause?“, fragte er jetzt. Angelika sah zuerst mich an, ehe sie von sich gab: „Im Spreewald!“ Karle war etwas irritiert: „Und wie …?“ „Wie wir uns kennengelernt haben? Das ist sehr kompliziert!“, lachte ich. „Ich sag’ einfach mal: Internet!“ „Na, wenn man dort solche hübschen Mädchen trifft, leg ich mir auch sowas zu, wenn ich in deinem Alter bin! – Paar Jahre hab’ ich aber noch vor mir.“ „Stell dir das nicht so einfach vor!“, gab ich zurück. „Einem Engel begegnet man nicht alle Tage!“ „Stimmt!“, bestätigte Angelika und warf mir einen schnellen Blick zu. „Wie ein Engel siehst du ja wirklich aus!“ Diesmal hatte Karle Angelika direkt angesprochen. „Siegfried ist der festen Überzeugung, dass ich auch einer bin!“ Wieder ließ sie ihre Augen über mein Gesicht huschen. „Stimmt’s?“ Mir saß ein Kloß im Hals, als ich ihre Frage bejahte. Karle sah mich unsicher an: „Ist dir nicht gut?“ „Wenn man einen Engel bei sich hat, ist diese Frage überflüssig!“ Angelika sah Karle gespielt vorwurfsvoll an. „Hast du noch nie was von Schutzengeln gehört?“ „Mensch, Kleene, du bist goldrichtig!“ Das ganze Lokal schien zu erbeben, als sein Lachen überhaupt kein Ende mehr nehmen wollte. „Wenn ich da an meine kleine Nichte denke – die kriegt ihren Mund überhaupt nicht auf!“ „Karle, mach die Rechnung fertig – wir dampfen wieder los!“ „Was heißt denn hier ,Rechnung‘? Ihr wart meine Gäste!“ Er brach bereits wieder in lautes Lachen aus. „Wenn man schon einmal einen Engel zu Gast hat …!“ Er gab zuerst Angelika die Hand. „Werden wir uns mal wiedersehen?“ „Wer weiß?“ So richtig schien Karle Angelikas Antwort nicht befriedigt zu haben, deshalb fragte er noch: „Gefällt es dir nicht in unserer Gegend?“ „Danach geht es nicht!“ Sie sah wieder erst zu mir, ehe sie fortfuhr: „Engel können sich ihren Aufgabenbereich nicht immer aussuchen.“ Diesmal lachte Karle nicht, wirkte plötzlich völlig zerstreut und reichte mir die Hand: „Mach’s gut, Siggi! Gute Fahrt und einen schönen zweiten Feiertag!“ „Dir auch, und vielen Dank für alles!“ * Der Abend verlief dann sehr ruhig: Ich hatte immerzu das Gefühl, Angelika dachte bereits wieder an ihr Kinderheim. Sie saß neben mir auf der Couch, nippte gelegentlich an ihrer Cola – sie schien ihr Lieblingsgetränk zu sein, ich hatte an einer Tankstelle auf der Heimfahrt noch einen Sechserpack gekauft – und sah, obwohl eine einigermaßen ansprechende Fernsehunterhaltungssendung lief, die meiste Zeit zu Boden oder zu meiner Puppe. Irgendwann kam sie noch näher gerutscht und lehnte sich an mich. Man hat noch nie davon gehört, dass auch Engel Kummer haben können!, überlegte ich flüchtig. „Bist du müde?“, fragte ich. Sie schüttelte heftig den Kopf. „Denkst du an deinen kleinen Fredi?“ Sie drehte mir ihr Gesicht zu und lächelte mich an: „Der hat mich ja morgen wieder.“ Sie holte tief Luft. „Bloß du bist bald wieder weit weg!“ Das war es? „Du kannst doch im Sommer wieder zu mir kommen!“ „Das weiß man nie so genau!“ Sie seufzte. „Da kann inzwischen soviel passieren!“ Angelika blieb den ganzen Abend über einsilbig und in sich gekehrt, trank allerdings ein halbes Glas Kognak mit mir, als ich sie an ihren Wunsch erinnerte. Gegen zehn verschwand sie im Bad. Ich bereitete inzwischen die Couch zum Schlafen vor und blies meine Luftmatratze auf. Als sie wieder hereinkam, trug sie, genau wie gestern Abend, meinen Bademantel. Aber während sie gestern mit Hilfe des Bindegürtels dafür gesorgt hatte, dass man noch immer erkennen konnte, welche zierliche Person in dem Mantel steckte, und die Ärmel nach oben gekrempelt waren, berührte heute der Saum fast den Teppich, und von ihren Händen war nicht die geringste Spur mehr zu sehen. „Sehe ich jetzt immer noch aus wie ein Engel?“, fragte sie und blieb mitten im Zimmer stehen. „Nein, ganz bestimmt nicht!“, lachte ich. „Hab’ ich eben Pech gehabt!“ Sie ließ sich auf die Couch fallen. „Wann fahren wir morgen?“ „Wann du willst!“ „Dann erst am Abend!“ „Okay! Erst am Abend!“ * Über den zweiten Feiertag gibt es trotz allem wenig zu erzählen: Angelika wirkte den ganzen Tag über abwesend. Nicht dass sie mürrisch gewesen wäre oder einsilbig oder sonstwie unausstehlich! Nein, sie blieb auch an diesem Tag der Engel, an den ich mich bereits gewöhnt hatte: Sie bereitete am Morgen wieder das Frühstück zu, wir gingen mittags wieder essen – diesmal in eine Zwickauer Gaststätte, wo sie bei einigen meiner Bekannten nicht minder Aufsehen erregte –, und wir machten einen Schaufensterbummel durch die Innenstadt. – Gegen Abend brachte ich sie dann zurück nach Lübben. Sie wollte diesmal aber bereits an der Tür verabschiedet werden. „Den Rest schaffe ich allein!“, lächelte sie unter Tränen. „Vielen Dank für das schöne Weihnachten!“ „Ich habe dir zu danken, Angelika!“ Sie schüttelte den Kopf: „Ich glaube, du irrst dich! Komm gut nach Hause!“ Ruckartig wandte sie sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzublicken, die Treppe nach oben. Eine Weile blieb ich noch im Hausflur stehen, dann stieg ich wieder ins Auto und fuhr nach Hause. * Bereits am nächsten Tag bekam ich keine Antwort mehr von Angelika, nachdem ich ihr eine Mail geschickt hatte, und als ich einen weiteren Tag später ihr Kinderheim anrief und nach ihr fragte, erhielt ich die Auskunft, dass es ein Mädchen mit ihrem Namen hier nicht gebe, ich müsse mich täuschen. „Aber Frau Christen, Ihre Heimleiterin, hat mir doch Angelika Hoffmann am Heiligabend selbst übergeben!“ „Wann hatten Sie denn den Antrag gestellt, das Mädchen über Weihnachten bei sich beherbergen zu dürfen?“ „Ich hatte keinen Antrag gestellt …!“ „Und da glauben Sie, Sie hätten einfach ein Kind so mitnehmen dürfen? So wie den Korb mit der schmutzigen Wäsche, der jede Woche abgeholt wird? Und wie, sagen Sie, hieß diese Heimleiterin?“ „Christen!“ „Hier gibt es auch keine Frau Christen! Mein Name ist Bergmüller, und ich bin seit acht Jahren die Leiterin dieses Kinderheims. Entweder Sie wollen sich über mich lustig machen, oder Sie müssen einem gewaltigen Irrtum verfallen sein! Guten Tag, der Herr!“ Ich war in den nächsten Minuten völlig unfähig, den Telefonhörer aus der Hand zu legen, stand nur das, lauschte dem Freizeichen und blickte durchs Wohnzimmerfenster auf die Wiese: Schnee lag noch, aber Weihnachten schien schon wieder seit einer Ewigkeit vorbei zu sein – und seit einer Viertelstunde wusste ich nicht einmal mehr, ob ich es allein verbracht hatte oder ob jemand bei mir zu Besuch gewesen war.
Posted on: Fri, 25 Oct 2013 10:32:40 +0000

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