Ingrid Heinisch berichtet im ND: 14.10.2013 Ausland Aufstand - TopicsExpress



          

Ingrid Heinisch berichtet im ND: 14.10.2013 Ausland Aufstand der Todgeweihten Vor 70 Jahren lehnten sich im KZ Sobibor hunderte Häftlinge gegen die SS-Mannschaften auf Im Oktober 1943 setzten sich im Vernichtungslager Sobibor verzweifelte Häftlinge gegen die SS zur Wehr. Einer der wenigen Überlebenden ist Philip Bialowitz. Holocaust und Auschwitz behandeln wir als Synonyme für die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten. Tatsächlich ist das möglich, weil 60 000 Menschen Auschwitz überlebt haben und darüber berichten konnten. Es gab andere Vernichtungslager, deren Namen weniger bekannt sind. Die - zynisch gesagt - wesentlich effizienter waren als Auschwitz, weil es dort um die reine Vernichtung ging: Sobibor in Polen zum Beispiel, Belzec, Chelmno. Alles Lager, die ausschließlich dem Tod geweiht waren, wo es kaum Überlebende gab und damit kaum Zeugen. Der Name Sobibor ist heute bekannt wegen einem der letzten Kriegsverbrecherprozesse, dem Verfahren gegen John Demjanjuk. Er erlangte eine solch große Bedeutung, weil hier ein kleiner KZ-Aufseher verurteilt wurde, ohne ihm nachzuweisen, dass er selbst Häftlinge ermordet hatte. Seine Beteiligung an der Mordmaschinerie genügte. Diese Beteiligung haben zwei ehemalige Häftlinge bezeugt: Philip Bialowitz und Thomas Blatt. Sie haben überlebt, weil sie an einem Aufstand und an einer Massenflucht teilgenommen haben, wie sie in der Geschichte der nationalsozialistischen KZs zuvor nur in Treblinka stattfanden, dort allerdings mit noch weniger Überlebenden. Philip Bialowitz hat über seine Zeit in Sobibor vor wenigen Wochen in Berlin berichtet; zum ersten Mal war er auf Einladung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten und des Internationalen Auschwitz Komitees in Deutschland. Etwa 500 Häftlinge lebten damals in Sobibor. Ihre Aufgabe war es, den Lagerbetrieb in Gang zu halten - und damit auch die Vernichtungsmaschinerie. Sie waren zur Versorgung der SS-Mannschaften da, sie sortierten das Hab und Gut der vergasten Juden, sie empfingen die todgeweihten Häftlinge bei ihrer Ankunft und entsorgten ihre Leichen. Philip und Thomas gehörten zu den 500. Beide kamen als Knaben mit ihren Familien nach Sobibor und hatten das Glück, zur Arbeit ausgewählt zu werden. Philip Bialowitz war da dem Tod schon einmal knapp entronnen. In seinem Heimatdorf hatte auf dem Friedhof eine Massenerschießung stattgefunden, doch Philip warf sich in eine der ausgehobenen Gruben und stellte sich tot. In Sobibor war dann sein Bruder Simcha so geistesgegenwärtig, sich zur Arbeit zu melden. Er behauptete, er sei Friseur und der jüngere Philip sein Gehilfe. Das Schicksal der übrigen Familie waren die Gaskammern. »Wir haben uns von ihnen verabschiedet. Sogar meine siebenjährige Nichte wusste, dass sie sterben würde«, sagt Philip Bialowitz. Thomas Blatt entging als Einziger aus seiner Familie der Vernichtung. Eine seiner Aufgaben bestand darin, bei den ankommenden Transporten zu helfen. Die polnischen Juden wurden mit Gebrüll, gezogenen Waffen und kläffenden Hunden von den Wachmännern empfangen. Die SS ging davon aus, dass die Häftlinge ihr geplantes Schicksal kannten und tat alles, um die Menschen einzuschüchtern, damit sie sich nicht wehrten. Juden aus anderen Ländern wurden ganz anders behandelt. Thomas Blatt beschreibt die Ankunft einer Gruppe von 500 dänischen Juden: »Der SS-Scharführer Hermann Mitchell hieß die Juden mit einer warmen, überzeugenden Stimme willkommen. Er entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten der Reise und die Schwierigkeiten, ihnen einen Platz unter einem Dach und ein Bett zu geben, um auszuruhen. Doch wegen der sanitären Umstände müssten sie zuerst eine Dusche nehmen und desinfiziert werden. Später, so versicherte er, würden die dazu Fähigen arbeiten, bezahlt werden und mit ihren Familien zusammenleben, bis der Krieg gewonnen sein würde. Seine beruhigende Rede zeigte ihre Wirkung.« Und so gingen die Menschen ins Gas, ohne etwas von ihrem Schicksal zu ahnen, und - das war das Wichtigste für die SS - ohne sich zu wehren. Die genauen Opferzahlen von Sobibor sind unbekannt, weil fast alle Unterlagen vernichtet worden sind. Die Schätzungen belaufen sich auf 170 000 bis 250 000 ermordete Juden innerhalb von nicht einmal anderthalb Jahren. Das Lager war eines von dreien (mit Belzec und Treblinka), die von den Nationalsozialisten im Zuge der sogenannten Aktion Reinhardt errichtet wurden. Dort war die Vernichtung von zwei Millionen Juden aus dem Generalgouvernement, dem östlichen Teil des besetzten Polen, und von einer halben Million Roma geplant. Sobibor nahm seinen Betrieb im April 1942 auf. Später kamen zu den polnischen Juden Transporte aus aller Welt, auch aus Deutschland. Wahrscheinlich wären in Sobibor noch mehr Opfer zu beklagen gewesen, wäre nicht etwas vollkommen Unerwartetes geschehen: der Aufstand. Möglich wurde er vor allem durch die Ankunft eines russischen jüdischen Offiziers: Sascha Pechersky. So sieht es Thomas Blatt. Bereits entstanden war eine Untergrundbewegung unter der Führung von Leon Feldhendler. Aber Sascha Pechersky hatte den Mut, das Unmögliche zu denken: mit allen 550 Häftlingen des Lagers zu fliehen. Am 10. Oktober 1943 formte sich das endgültige Kommando für den Aufstand. Nicht einmal zehn Prozent der Lagerinsassen waren in die Pläne eingeweiht. Drei Phasen waren vorgesehen: die Angriffteams vorzubereiten, die Nazis lautlos zu liquidieren und die übrigen Häftlinge für eine offene Revolte und eine Massenflucht zu mobilisieren. So geschah es. Unter Vorwänden gelang es, einige SS-Leute von ihren Posten wegzulocken, wie sich Philip Bialowitz erinnert: »Ich ging zu einem Gestapo-Mann und sagte ihm, ich sei mit der Nachricht gesandt worden, dass wir sehr schöne Stiefel und einen Ledermantel für ihn gefunden hätten. Kommen Sie zum Magazin und probieren ihn an. Als er und die anderen hereinkamen, wurden sie mit Messern und Äxten getötet.« Es gelang den Verschwörern auf diese Art und Weise, zwölf Mitglieder der Wachmannschaft auszuschalten - zwölf von über hundert. Nun ging es darum, die Häftlinge zur Flucht zu ermutigen. Pechersky, so erinnert sich Thomas Blatt, hielt am 14. Oktober eine flammende Rede: »Er teilte ihnen mit, dass die meisten Deutschen getötet worden seien und es deshalb keinen Weg zurück gebe. Ein schrecklicher Krieg zerstöre die Welt und jeder Häftling sei Teil dieses Kampfes. Ob tot oder lebendig, so versicherte er, sie würden gerächt. Aus der Mitte der Zuhörer war eine einzelne ungeduldige Stimme zu hören: Vorwärts! Hurra, Hurra! Und in dem Moment brach das ganze Lager mit diesem Ruf aus.« Das Haupttor wurde von den restlichen SS-Leuten verteidigt. Deshalb kletterten die Häftlinge über den Zaun: »Wir hatten geplant, die Minen dahinter zuerst zu entschärfen, aber wir konnten nicht warten, wir zogen den plötzlichen Tod einem weiteren Moment in der Hölle vor. Überall waren Leichen. Der Lärm von Gewehren, explodierenden Minen und das Rattern der Maschinengewehre verletzte die Ohren. Die Nazis schossen aus der Entfernung, während wir nur Messer und Hacken hatten.« 80 Juden starben während der Flucht, 150 hatten sie gar nicht erst gewagt. 170 wurden in den folgenden Tagen, in denen die SS eine unbarmherzige Verfolgungsjagd veranstaltete, wieder eingefangen und sofort ermordet. 150 Häftlingen gelang die Flucht tatsächlich. Einige von ihnen fielen später als Partisanen, viele - nämlich 92 - starben vor Kriegsende, weil sie meistens in ihren Verstecken verraten wurden. 53 jedoch haben das Kriegsende erlebt. Philip Bialowitz hatte sich Partisanen angeschlossen. Thomas Blatt wurde von Polen verraten und überlebte schwer verwundet, weil die Häscher ihn für tot hielten. Die Nazis gaben Sobibor sofort auf. Das Lager wurde liquidiert. Als Reaktion auf den Aufstand beschloss die SS eine Aktion mit dem zynischen Namen »Erntefest«: Innerhalb einer Woche wurden in verschiedenen Konzentrationslagern, unter anderem in Majdanek, 40 000 Juden ermordet. Thomas Blatt und Philip Bialowitz emigrierten nach Amerika und versuchten, dort ein normales bürgerliches Leben zu führen. Was ihnen gelang: Bialowitz hat fünf Kinder und 14 Enkel. »Das«, sagt er, »ist mein größter Triumph über die Nazis.« Aber ein normales Leben konnte nicht gelingen, weil Sobibor sonst wirklich vergessen worden wäre. In Polen erweckte eine Statue des Geistlichen Maximilian Kolbe auf dem Gelände von Sobibor den Eindruck, dort wären polnische Christen ermordet worden. Noch bis vor 25 Jahren waren alle Spuren der Vernichtung verschwunden. Stattdessen befand sich auf dem Gelände des einstigen Lagers ein Kindergarten mit einem Spielplatz. Das hat sich geändert, vor allem wegen des Einsatzes von Philip Bialowitz und Thomas Blatt. Gerade wurden in einem Wettbewerb verschiedene Konzepte für eine neue Gedenkstätte in Sobibor ausgezeichnet. An ihrer Finanzierung will sich Deutschland allerdings nicht beteiligen. Die Begründung der Staatsministerin des Auswärtigen Amtes Cornelia Pieper im ARD-Magazin »Kontraste« vor einer Woche: Es seien ja keine deutschen Juden in Sobibor vergast worden. Das ist nachweislich falsch, und selbst wenn es richtig wäre: Die Deutschen waren die Mörder. Daraus erwächst eine Verantwortung für die Gedenkstätte.
Posted on: Mon, 14 Oct 2013 15:12:18 +0000

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