Javel N°5 oder das Candlelightdinner bei Aldi aus meinem Buch - TopicsExpress



          

Javel N°5 oder das Candlelightdinner bei Aldi aus meinem Buch "Bar Sevilla" Ingrid fuhr zum ersten Mal, seit sie mit Rainer verheiratet war, allein in den Urlaub. Nicht zu Fototerminen für einen Tag oder zwei, sondern eine richtige Woche Ferien sollte es werden. Entspannung pur war angesagt, und sie wählte deshalb eine Flugreise in den Süden, obwohl sie eigentlich gern Auto fuhr. Ein kleines Hotel mit Blick aufs Meer war das Ziel ihrer Wünsche. Als sie dort ankam, war ihre Freude groß, denn alles passte bestens zusammen und war genau so, wie sie es sich erträumt hatte. Die ersten beiden Tage verbrachte sie mit Lesen, ab und zu Sonnenbaden am Strand oder mit Besichtigungsfahrten per Bus in die herrliche Umgebung. Und da sie eine Frühaufsteherin war, hatte sie auch im Urlaub kein Problem damit, ihr Zimmer bis um zehn Uhr morgens verlassen zu müssen, die einzige Reglementierung, die es für sie gab. Ansonsten konnte sie tun und lassen, was und wann immer sie wollte – für sie ein absoluter Hochgenuss. Bereits am ersten Tag hatte sie eine kleine Frühstücksbar gefunden, in der sie ihren Kaffee trank und ein leckeres Hörnchen dazu aß. Die anderen Mahlzeiten nahm sie ein, wo es sich gerade ergab, wenn möglich aber direkt am Meer. Am dritten Tag fiel ihr auf, dass zu der Zeit, wenn sie frühstückte, stets noch jemand dort saß, der aufgrund seines hellen Teints kein Einheimischer sein konnte, wie sie befand. Im Gegensatz zu ihr frühstückte er reichlich, ließ sich Zeit damit und schien dies sehr zu genießen. Manchmal las er dabei in einer deutschen Zeitung, wie sie im Vorbeigehen erspäht hatte. Er war groß und blond und sie sich sicher, einen Landsmann vor sich zu haben. Am nächsten Morgen, gerade als sie beim Frühstück saß, klingelte ihr Handy. Sie hatte zwar ausdrücklich jedem mitgeteilt, sie wünsche in der Urlaubswoche nicht gestört zu werden, hatte aber das Telefon für eventuelle Notfälle angelassen. Am Telefon war ihre Nichte mit Liebeskummer, was in deren Augen sehr wohl ein Notfall war. Und in einem solchen Fall fragte sie grundsätzlich ihre Lieblingstante um Rat, so also auch diesmal. Ingrid verließ die Bar, beruhigte den Teenager und kehrte dann an ihren Tisch zurück. Der blonde Mann blickte von seiner Zeitung auf und sie direkt an und lächelte. Er hatte ein wirklich nettes Lächeln, das ihr gut gefiel, und so gab sie es zurück. Auf diese Weise von ihr aufgefordert, nahm er seinen Kaffee und kam an ihren Tisch. „Entschuldigen Sie bitte”, sprach er sie mit einer sehr angenehmen Stimme an, „ich hörte durch den Anruf, dass Sie auch Deutsche sind. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich heiße übrigens Alexander.” Ingrid bejahte und deutete auf den leeren Stuhl neben sich. Sie kamen schnell ins Gespräch, er erwies sich als höflich und konnte recht amüsant plaudern. Mit Kennerblick stellte sie fest, dass er einen ausgesprochen hübschen Mund hatte, im Übrigen kam er aus dem Norden, war ein echter Sylter mit blaugrauen Augen. Nach einer Weile verabschiedete sie sich, denn sie hatte einen Ausflug vor, wie sie ihm sagte. Sie merkte, dass er sie zu gern gefragt hätte, ob er mitkommen dürfe, hielt sich aber zurück und bat schlicht um ein Rendezvous am nächsten Tag beim Frühstück. Mit dieser Verabredung verließ Ingrid beschwingt und gut gelaunt die Bar, eilte zum Bus und machte an diesem Tag besonders schöne Aufnahmen. Alexander ging ihr dabei nicht aus dem Kopf, sie fand ihn charmant, er gefiel ihr - umgekehrt war es offenbar genauso. Gegen ihren Willen begann das Kopfkino schneller, als ihr lieb war. Später fand sie eine kleine Taverne am Meer, genoss fangfrischen Fisch und dazu den Blick auf die untergehende Sonne. Und obwohl sie solche Abendstimmungen eigentlich ganz besonders mochte, ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder an den nächsten Morgen dachte. Sie kokettierte mit dem Gedanken, er könnte vielleicht doch nur Kaffee trinken wollen mit ihr, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Es kribbelte in ihr, und sie merkte, dass sie für ein erotisches Abenteuer bereit war, ein Gefühl, das durch den leichten Rosé, den sie zum Essen trank, noch prickelnder wurde. Natürlich fiel am nächsten Tag ihre Morgentoilette im Bad deutlich länger aus als an den Tagen zuvor. Im Urlaub ging sie gewöhnlich ohne Make-up, und dass Alexander sie bisher ungeschminkt gesehen und sie ihm doch gefallen hatte, war ein Umstand, der ihr durchaus schmeichelte. Nun aber griff sie zum Schminktäschchen, zog den Mund korallenrot nach, was ihr zur Sommerbräune und den dunklen Haaren besonders gut stand. Zum Abschluss dann noch ein paar Spritzer ihres Lieblingsduftes, den sie immer dabei hatte, und los ging es - mit Verspätung und leicht erhöhtem Puls. Er war schon da, wartete ungeduldig auf sie, denn auch er hatte seine Fantasie den vergangenen Tag über spielen lassen in der Hoffnung, es könnte sich vielleicht mehr ergeben als nur ein kleiner Flirt. Er lebte seit Monaten in Trennung und obwohl es ihm eigentlich sonst nicht schwer fiel, eine Frau anzusprechen, fehlte ihm doch seit einiger Zeit die Energie dazu. Seine private Situation belastete ihn, er fühlte sich ausgepowert, antriebslos und verzettelte sich, hatte Mühe, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Ein guter Freund hatte ihm deshalb geraten, auszuspannen und wegzufahren, um Abstand zu gewinnen, Kraft und Ruhe zu tanken und wieder neu ins Leben zurückzufinden. Viel Geld hatte er nicht, die bevorstehende Scheidung hatte ihn schon im Vorfeld einiges gekostet, doch diese kleine Reise war ihm als Last-Minute-Angebot gerade noch möglich gewesen. Und da traf er plötzlich auf Ingrid. Wie eine glückliche Fügung des Schicksals saß sie im selben Frühstückscafé wie er, sprach dieselbe Sprache, strahlte Sinnlichkeit aus, und er fand sie sehr gut aussehend. Also gab er sich große Mühe, sie mit allem Geschick, das er hatte, zu umgarnen, denn auch er glaubte ihre Reaktionen am Vortage richtig gedeutet zu haben. Dies um so mehr, als sie dann kam mit plötzlich aufgelegtem Make-up, kürzerem Rock, ein Knopf mehr geöffnet an der Bluse. Ihre nackten, während des Frühstücks übereinander geschlagenen Beine, die sie leicht wippen ließ, vor allem aber der knallrot geschminkte Mund signalisierten ihm nichts anderes als ihre Bereitschaft für ein Urlaubsabenteuer. Sie machten zuerst ein wenig auf Smalltalk, doch schon nach kurzer Zeit war Alexander bei einer Art Lebensbeichte, was dazu führte, dass auch sie ihm von ihrer alles andere als glücklichen Ehe erzählte. Grosses Gelächter dann, als sie ihm ihren Beruf nannte und er erklärte, er sei eigentlich Lithograf. Sie bemerkte aber sehr wohl, dass er dann schnell vom Thema ablenkte, und sie konnte sich denken warum. Was er stattdessen beruflich machte, verschwieg er, und sie hakte auch nicht nach. Sie beschlossen, den Tag miteinander zu verbringen. Es gefiel ihr, dass auch er romantisch veranlagt war, das Meer ebenso liebte wie sie, Muscheln suchte und durch und durch ein Genussmensch zu sein schien. Perfekt also für einen Urlaubsflirt, dachte Ingrid, während sie am Ufer entlanggingen. Und wenn es gut lief, könnte daraus vielleicht eine „long-distance-love“ werden. Dieser Gedanke gefiel ihr. Schön weit weg, keine Verantwortung, Besuche würden sich prima mit Aufträgen verbinden lassen, die sie sowieso häufig für mehrere Tage in Anspruch nahmen. In einem kleinen Laden kauften sie Brot, Käse, Oliven und Tomaten für ein Picknick in einem nahe gelegenen Pinienwäldchen. Und immer mehr erzählten sie sich voneinander, wobei Alexander eine Tendenz zum Selbstdarsteller hatte, wie Ingrid in einer Mischung aus leichter Gereiztheit und Amüsement feststellte. Später fragte er sie, ob sie nach dem Abendessen, das er in seiner Pension einnehmen wollte, noch ein Glas Wein zusammen trinken würden. Sie sagte zu, wenngleich ein bisschen enttäuscht darüber, dass er sie nicht zum Essen eingeladen hatte. Entweder war ihm ein ganzer Tag Gemeinsamkeit doch zuviel für den Anfang oder er war ein sparsamer Mensch, entschied sie. Letzteres missfiel ihr etwas, denn sie schätzte Großzügigkeit an Männern sehr. Nun, sagte sie sich, man kann nicht alles haben im Leben, und solange er ein guter Liebhaber ist – hoffentlich doch, reicht das ja. Also nahm sie bei immer noch bester Laune in der kleinen Taverne Platz, in der sie schon an den beiden Abenden zuvor gegessen hatte. Den Kellnern blieb weder ihr Ausgehstaat verborgen noch ihr Lächeln, das ihren roten Mund permanent umspielte, und sie machten ihr charmante Komplimente, was Ingrids Stimmung zusätzlich hob. Nachdem sie sich im Hotelzimmer noch ein wenig frisch gemacht hatte, ging sie zum verabredeten Restaurant. Alexander war schon da und hatte eine Karaffe Rotwein bestellt. Das Meer rauschte, und der Mond malte eine glitzernde Straße auf das Wasser. Wieder sprach er viel, über seine Familie und die Arbeit, über Lebenseinstellungen im Allgemeinen und im Besonderen und geriet darüber ins Philosophieren. Auch wenn er leichthin sprach, schien es ihm ersichtlich nicht gut zu gehen, wenngleich er tunlichst vermied, genau diesen Eindruck zu erwecken. Dass er eine Krise durchlebte, wurde Ingrid immer klarer, je länger er sprach, aber sie wollte sich durch intensives Nachfragen nicht die sich anbahnende Urlaubsromanze verderben lassen, zumal sie seine Probleme auch nicht wirklich interessierten. Dafür gefiel ihr sein Mund immer mehr, während sie ihm zuhörte und ihn dabei ansah, und ihre Lust wuchs, ihn zu küssen. Als sie bemerkte, dass sein Blick immer wieder an ihrem Ausschnitt hängen blieb, blickte sie ihm, ermutigt durch den Rotwein, etwas länger in die Augen und lächelte dabei. Er lächelte zurück und nahm ihre Hand. „Wollen wir zahlen?“, fragte er, versenkte seine Augen wieder in die ihren und winkte dabei nach dem Kellner. Sie gingen schweigend hinaus, und er hakte sie fest unter. Es war immer noch recht warm, doch ein Schauer überlief sie, den er sogleich bemerkte. „Ist dir kalt?“, fragte er sie umarmend und zog sie in die Dunkelheit der Kaimauer. „Ein wenig“, hauchte sie und hatte plötzlich Herzklopfen. Da küsste er sie, wieder und wieder, und sie hoffte, ihre Erfahrung, dass Männer, die gut küssen können, auch gut im Bett sind, ein weiteres Mal bestätigt zu bekommen. „Lass uns zu mir gehen“, flüsterte er und zog sie fester an sich. Mit schnellen Schritten gingen sie, beide sagten kaum etwas, und ihre Erregung wuchs mit jedem Schritt. In der Pension angekommen, schaltete er nur eine kleine Lampe an und küsste sie wieder, fantasievoll, zärtlich und leidenschaftlich zugleich. So war auch die Liebesnacht mit ihm. Sie hatten sehr viel Spaß an- und miteinander, waren sich einig in ihren Vorlieben und genossen sich, denn Alexander war ein sehr sinnlicher Mann, der den Genuss seiner Partnerin vor die Erfüllung seiner eigenen Lust stellte. Auch er hatte geahnt, dass es schön mit ihr sein könnte, aber dass sie ihn als Liebhaberin so sehr verwöhnen würde, übertraf seine kühnsten Wünsche. Nur noch wenige Urlaubstage blieben ihnen, die sie nun miteinander verbrachten. Ingrid war ein bisschen verliebt, wie sie feststellte, und Alexander schien es auch zu sein. Als der letzte Abend und der Abschied gekommen war, sagte er nur: „Ich bin nicht der Typ Mann, der gleich eine Liebeserklärung macht, aber ...“ Das Aber ließ er offen, sie fragte nicht nach, dann küssten sie sich noch einmal lange und zärtlich. Sie verabredeten, sich gelegentlich zu treffen, sich Kuschelnester zu suchen, um dann eine kleine Weile mit viel Nähe und Körperlichkeit zu verbringen. Für eine intensivere Beziehung schien Alexander nicht bereit, obwohl Ingrid, die noch nicht einmal getrennt lebte, zu etwas mehr bereit gewesen wäre. Erst einmal abwarten, dachte sie auf dem Rückflug, während sie die Tage mit ihm noch einmal Revue passieren ließ. Wieder zu Hause angekommen, hörte sie von allen Seiten Komplimente, wie gut sie doch aussähe. Natürlich traf sie sich auch gleich mit ihren Freundinnen in der Bar Sevilla, die es kaum erwarten konnten, die geheimnisvollen SMS aus dem Urlaub erklärt zu bekommen. Sie zeigte ihnen ein Foto von Alexander auf ihrem Handy, und alle fanden, er sei in der Tat ein gut aussehender Mann. Dennoch störte jede der drei Frauen irgendetwas an ihm. In seinem Blick läge so etwas, was sie warnen würde, meinten sie dann übereinstimmend. Und so rieten sie Ingrid, bloß nicht zu viel Gefühl für ihn zu entwickeln und vor allem ihn nicht als Retter aus ihrer Ehemisere anzusehen. Obwohl Ingrid tief im Innern die Meinung ihrer Freundinnen teilte, entwickelte sich doch so etwas wie Liebe in ihr durch tägliche Telefonate mit ihm oder Chats im Internet. Dann aber stellte sie fest, dass Alexander in dem virtuellen Netzwerk, in dem sie beide waren, auch mit anderen Frauen ziemlich unverblümt flirtete, obwohl er doch wissen musste, dass sie alles mitlesen konnte, doch es schien ihm gleichgültig zu sein. Das erschreckte sie und sie dachte darüber nach, ob es nicht doch besser wäre, ihn nicht wiederzusehen. Als wenn er ihre Gedanken und Zweifel über Hunderte von Kilometern gespürt hätte, rief er genau in dem Moment an, als sie beschlossen hatte, die Affäre mit ihm als beendet zu betrachten, und überzeugte sie wieder mit seiner warmen, schmeichelnden Stimme. Er sagte, wie sehr er sich darauf freuen würde, sie wieder einmal zu sehen. Sie wollte ihm glauben und gleichzeitig auch cool sein, also schluckte sie ihre Verärgerung runter und fragte nicht nach seinen virtuellen Eroberungen, auch wenn es ihr auf der Zunge lag. Der Zufall wollte es, dass sie tatsächlich nach einiger Zeit einen Auftrag in seiner Nähe bekam, und sie beschloss ein Wiedersehen mit ihm. Alexander war begeistert, als sie ihm davon erzählte, und schrieb ihr, er würde es wunderschön machen für ihren gemeinsamen Abend, Candlelight Dinner inklusive. Ingrid beschloss, zuerst zu ihm zu fahren, und buchte das Hotelzimmer für ihren Fototermin erst für den darauffolgenden Tag. Als das Ticket schon gekauft war, wurde ihr plötzlich doch etwas mulmig zumute, aber nun wollte sie auch keinen Rückzieher mehr machen. Sie ließ ihn wissen, dass sie in den frühen Abendstunden ankommen würde, mit der Überfahrt nach Sylt ungefähr 10 Stunden unterwegs sei und sich deshalb auf das Candlelight Dinner ganz besonders freuen würde. Alexander versprach sie abzuholen. Unterwegs war sie aufgeregter, als sie sich selbst zugeben wollte, las keine Zeile in dem Buch, das sie eingepackt hatte, sondern dachte an ihn, an sie beide, an das, was sie an ihm verunsicherte, auch ärgerte, aber dann auch wieder an die wunderbaren Nächte, die sie mit ihm gehabt hatte. So träumte sie zum Abteilfenster hinaus in die inzwischen graue Winterlandschaft. Endlich war sie auf der Fähre, wo ein kalter Wind blies, aber ihr Herz pochte aufgeregt, schon lange war sie nicht mehr so nervös eines Mannes wegen gewesen. Schnell noch einmal die Lippen nachgezogen, ein paar Tropfen Chanel hinter die Ohren getupft, da legte die Fähre auch schon an. Sie zwang sich langsam zu gehen, wollte gelassen auf ihn zugehen, aber es war kein Alexander da, wohin sie auch blickte. Da griff etwas eiskalt an ihr Herz und eine plötzliche Angst, er könnte sie hier, aus welchen Gründen aus immer, versetzen, erfasste sie. Sie fror plötzlich wie Espenlaub und suchte mit zitternden Fingern in ihrer Tasche nach dem Handy. Alexander nahm gleich ab und entschuldigte sich wortreich, er habe sich mit einer Bekannten verquatscht, die er zufällig getroffen habe, sei aber schon auf dem Wege und gleich bei ihr. Hoffentlich ist der Beginn unseres Wiedersehens kein schlechtes Omen, dachte Ingrid, als er aufgelegt hatte, und schalt sich selbst, nicht doch sicherheitshalber auch für den Ankunftstag ihr Hotelzimmer gebucht zu haben. Als Alexander dann schließlich ankam, war er blass und keineswegs mehr der strahlende Mann, den sie aus dem Urlaub in Erinnerung hatte. Er lief auf sie zu und nahm sie fest in die Arme, küsste sie aber nicht. Wegen des Lippenstifts, meinte er auf ihre erstaunte Frage, ob sie keinen Begrüßungskuss bekäme. Das gab ihr einen Stich, der auch dann nicht ganz verschwand, als er ihr zuflüsterte, dass schon fast alles vorbereitet sei. „Fast“, fragte Ingrid zurück, „was heißt das? Ich sterbe vor Hunger!“ „Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen noch ganz kurz bei Aldi vorbei, ich habe dummerweise etwas vergessen“, gab er zur Antwort. Da wurde Ingrid, die nicht nur hungrig war nach der langen Fahrt, sondern auch müde, doch etwas ungehalten. Nach einer zehnstündigen Reise erst noch in einem Discounter einkaufen zu müssen, damit hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Hatte er nicht gestern noch geschrieben, es sei alles vorbereitet, dachte sie, und Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Doch aus der kleinen vergessenen Sache wurde mehr, und zwar ein richtiger Wocheneinkauf, wie Ingrid das Gefühl hatte. Als sie ihn sichtlich genervt daraufhin ansprach, sagte er, er liebe Discounter, könne sich stundenlang in ihnen aufhalten, sie durchstreifen, jedes Angebot begutachten und dabei mit Begeisterung die Preise vergleichen. Das tat er dann auch ausgiebig und mutete ihr tatsächlich zu, eine geschlagene halbe Stunde von Regal zu Regal zu gehen, hin und her zu überlegen, ob man dies oder doch lieber das nehmen solle, bis er dann endlich die Dinge zusammen hatte, die er einkaufen wollte. Ingrid machte nolens volens halbwegs gute Miene dazu und hoffte, dass wenigstens bei ihm zu Hause das versprochene gemütliche Abendessen vorbereitet war. Alexander wohnte in einem wunderschönen alten Pfarrhaus, doch als sie seine Wohnung in der oberen Etage betraten, dachte Ingrid, er sei entweder gerade eingezogen oder wollte ausziehen. Von einer Wohnungseinrichtung im eigentlichen Sinne konnte nicht die Rede sein, überall stapelten sich Kisten, alte Zeitungen und bergeweise ungeöffnete Post, aber der Gipfel war schmutziges Geschirr, das sich in der Badewanne befand. Auf ihre entsetzte Frage, was es damit auf sich habe, sagte er quasi als Entschuldigung, dass seine Frau die Küche und den Geschirrspüler bei ihrem Auszug mitgenommen hätte. Ingrid war nicht nur bodenlos enttäuscht, sie war geradezu schockiert. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und das Weite gesucht. Aber wohin auf die Schnelle? Und sie verfluchte innerlich ihren Leichtsinn, ohne jede Rückversicherung seinen Worten Glauben geschenkt zu haben. Wenigstens das Bett war frisch bezogen und er selbst roch auch verführerisch gut. Also blieb nur, sich ins Bett zurückzuziehen und alles andere zu vergessen. Genau das taten sie dann, und merkwürdigerweise funkte es da auch gleich wieder zwischen ihnen. Es war schön, sie genossen sich gegenseitig wie ihm Urlaub und kamen über Stunden nicht aus dem Bett. Als sich dann aber bei beiden der Hunger mit Gewalt meldete und sie gemeinsam, wenn schon kein Candlelight Dinner, so doch wenigstens eine Brotzeit vorbereiteten, stellte er sich auf einmal als gnadenloser Pedant heraus, ein Besserwisser, der nur seine eigenen Regeln akzeptierte und sie pausenlos bevormundete. Vollends grotesk wurde es, als er, und das angesichts des Zustands seiner Wohnung, ihr wortreich von seiner Leidenschaft für ein französisches Reinigungsprodukt namens "Javel"erzählte, für das er, wie er nicht ohne Stolz sagte, einmal im Jahr eigens nach Belgien fuhr, um es literweise nach Hause zu schaffen. Dann dozierte er darüber, was man alles damit anstellen könne, wofür es gut sei und was er schon damit gereinigt hätte. Damit war für Ingrid die Schmerz- und Geduldsgrenze erreicht. Sie war froh, nun auch ihrerseits keine Rücksicht nehmen zu müssen und packte ihre Tasche und den Mantel. Kurze Zeit später stand sie, zwar immer noch hungrig, aber dennoch erleichtert wieder auf der Fähre und damit auf dem Weg zu ihrem Auftrag. Kontakt zu ihm wollte sie nach diesem Erlebnis nicht länger halten, nicht einmal mehr im virtuellen Raum. Um jeder Diskussion darüber mit ihm aus dem Wege zu gehen, gab sie vor, sich wieder mit ihrem Mann versöhnt zu haben. Sie verloren sich aus den Augen, bis Ingrid eines Tages im Regionalfernsehen einen äußerst skurrilen Bericht sah. In Freiburg war ein Mann verhaftet worden, der sich eines seltsamen Vergehens schuldig gemacht hatte. Der Mann hatte im Internet Bilder von den berühmten Freiburger Bächle gesehen, kleinen Kanälen, die die Altstadt durchziehen und in denen allerhand Pflanzen und Algen gedeihen. Über so viel Schmutz im öffentlichen Raum erbost, reiste der Mann in die südbadische Domstadt und schüttete in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zig Liter Javel in die Bächle. Die Pflanzen starben daraufhin ab, und die Empörung war groß im „grünen“ Freiburg. Der Mann konnte aufgespürt werden. Ein Fernsehteam filmte seine Festnahme - es war Alexander.
Posted on: Sun, 18 Aug 2013 10:05:40 +0000

Trending Topics



Recently Viewed Topics




© 2015