Lesenswert, wenn auch sehr vereinfachend: Das Salz der - TopicsExpress



          

Lesenswert, wenn auch sehr vereinfachend: Das Salz der Erde Verstossen, verfolgt, vernichtet. Keine Geschichte ist dramatischer als jene der Juden. Wer sind sie? Was schweisst ihr Volk zusammen? Wie haben sie trotz aller Anfeindungen bis heute überlebt? Simon ­Schama, Starhistoriker mit theatralischem Flair, hat sich an den epischen Stoff gewagt. Von Urs Gehriger Es giesst aus Kübeln an diesem Septembertag, Regenschirme tanzen über dem Asphalt am Londoner Sloane Square, über hundert Meter reihen sie sich vor dem Eingang der Cadogan Hall auf. Drinnen auf den Rängen und Balkonen harren bereits, angeregt tuschelnd, an die tausend Leute. Gleich wird hier Simon Schama auftreten, der britische Historiker, der Geschichte wie ein ­Entertainer zelebriert, aber zuerst ist noch etwas Filmisches eingeplant auf der Bühne, auf der sonst das Royal Philharmonic Orchestra gastiert — eine Art Werbespot für sein neues Buch. Und dann ist der da, reisst etwas kokett die Arme in die Luft, schickt Handküsse in den Saal. «Hello!», ruft er mit theatralischer ­Stimme. Mit einem Wort gibt er den Ton für den Abend an. Ein Fest soll es werden, Heiterkeit, Freude, was nicht selbstverständlich ist beim Thema dieser Veranstaltung. Das Publikum quittiert es mit tosendem Applaus. Simon Schama ist ein Star. Episch hat er dem Fernsehpublikum vor ein paar Jahren die Geschichte Grossbritanniens erzählt. Nun ist er wieder auf Sendung, mit der BBC-Serie zu seinem neuen Buch: «The Story of the Jews» – Die Geschichte der Juden. Es ist eine Geschichte von Millionen Gesichtern und ebenso vielen Schicksalen. Was also, wenn überhaupt, haben sie gemeinsam? Nicht die Hautfarbe, nicht die Sprache, die sie sprechen, die Melodien, die sie singen, nicht ihre Meinungen (Juden sind leidenschaftlich streitlustige Menschen), nicht einmal die Art, wie sie beten, vorausgesetzt, sie beten überhaupt. «Was uns zusammenhält, ist eine Geschichte», sagt Simon Schama, «die Geschichte, die wir in unseren Herzen tragen, eine Geschichte des Leidens und der Widerstandskraft, der Ausdauer und der Kreativität.» Es ist ein episches Unterfangen, das zwangsläufig Flickwerk bleiben muss, will man es zwischen zwei Buchdeckeln zusammenfassen. Schama, der sich zum Reformjudentum zählt, umgeht das programmierte Scheitern, indem er seinen dramaturgischen Spürsinn walten lässt, seinen Instinkt für Ereignisse, die er als Symbole für Komplexes auswählt und mit distinguierter Sprachkunst modelliert. Um nach der Wurzel des Judentums zu greifen, wählt er Sigmund Freud zu seinem Assistenten. «Ausgerechnet Freud!», ist man geneigt zu sagen, Freud, den Atheisten. Verfolgt von den Nazis, aus Wien geflüchtet im Alter von 82 Jahren, gelangt Schama nach England, «liebenswertes, freies, grossherziges England», wie er es nannte. Hier konnte er sich den Fragen zuwenden, die ihn seit Jahren beschäftigt hatten. Woher stammt die ausgeprägte Identität der Juden? Und wie, trotz aller Widrigkeiten, vermochte sie zu überleben? In der Kollektion von Figuren und Ornamenten, die er in seinem Arbeitszimmer versammelt hatte, befand sich ein Artefakt, der für Ausdauer und Überleben steht: eine antike Menora, die siebenarmige Lampe, die die Erleuchtung symbolisiert. «Die Menora ist das älteste und dauerhafteste Symbol der jüdischen Identität», so Schama, «selbst für jemanden wie Freud, der sich als ‹gottlosen ­Juden› bezeichnete.» Gottlos mag er gewesen sein. Aber Freud gab sein Judentum nie auf. Und als der Nazi-Antisemitismus sich wie ein dunkler Tintenfleck auszubreiten begann, bekannte er sich öffentlich und laut als Jude. Die Psychoana­lyse, Freuds grosse Entdeckung, war getrieben von der Überzeugung, in unserer Herkunft liege die Erklärung für alles, was folgt. Bestürzt über den dunklen Hass, losgetreten von den Nazis, wandte Freud seine Theorie auf das Judentum an. Im Herzen der jüdischen Geschichte lag eine alte Obsession Freuds: Moses, die dominierende Vaterfigur, welche ihr Volk aus Ägypten herausführte und ihm Geschenk und Bürde der zehn Ge­bote auf die Schultern legte. Inmitten des Nazi-Horrors wandte sich Freud den Fragen Moses’ zu: Wie, warum und wann hat das bemerkenswerte Schicksal der Juden begonnen? Und warum hat der Rest der Welt so oft beschlossen, sie dafür teuer be­zahlen zu lassen? Freuds Theorie war starker Tobak: Die antiken Israeliten hätten gegen Moses rebelliert und ihn getötet. Und dann, aus Schuldgefühl und Reue, hätten sie die Gesetze anerkannt, die er vom Berg Sinai heruntergebracht hatte, und an ihnen festgehalten trotz Verfolgung, Exil und Exekution. Freuds Theorie löste, nicht ganz unerwartet, einen Skandal aus und legte einen Schatten auf Freuds letzte Lebensmonate. «Etwas ausser­ordentlich Wichtiges war untergegangen in all dem empörten Rufen und Schreien», stellt Schama fest. «Freuds leidenschaftliche Überzeugung, dass die Juden sich durch die Aufbewahrung ihrer Religion – bewusst oder unbewusst – eine aussergewöhnliche Möglichkeit gegeben haben, nicht nur als Glaubensgemeinschaft, sondern als Volk zu überleben, selbst wenn alles andere verlorenging: Haus, Land, Königreich. Das ist die Bedeutung der reisenden Menora: die Idee, eine Identität aufrechtzuerhalten, intellektuell, kulturell und spirituell. Eingekeilt zwischen Grossmächten Die jüdische Geschichte wurzelt in ­einer besonderen Landschaft, einem Ort mit vielen ­Namen: «das Land, wo Milch und Honig fliesst», «Land Israel», «das Heilige Land», «Gelobtes Land». Die Sefar-Thora, die heilige Schrift, die Christen das Alte Testament nennen, erzählt lebhaft davon. «Welch Moment der Literatur!», schwärmt Schama. Adam und Eva werden aus dem Paradies geworfen, Kain tötet seinen Bruder Abel, Noah baut die Arche, Abraham wird aufgefordert, seinen Sohn Isaak zu opfern. Und das alles, bevor Moses überhaupt die Bühne betritt! Man braucht die Bibel nicht als faktentreue Quelle anzusehen, um festzustellen, dass sich in dieser Gegend etwas Besonderes abspielte vor dreieinhalbtausend Jahren. Ein Volk findet zu Gott, zu einem Gott, der dazu noch gesichts- und formlos ist. Der Monotheismus wird «erfunden». Neben all diesen inspirierenden Geschichten zeugt die Thora von einer Fülle an Tragödien. Gott mag dieses Volk auserwählt haben, das sich in Jerusalem einen Tempel erbaut. Aber er scheint es bald wieder fallenzulassen. Eingekeilt zwischen den Grossmächten Ägypten, Assyrien, Babylon geht das jüdische Königreich 587 v. Chr. unter, sein Volk endet in Gefangenschaft, von Nebukadnezar ins Exil nach Babylon gezwungen. Niemand mehr würde von den Juden heute reden, hätte sie dasselbe Schicksal ereilt wie all jene Völker – von den Moabitern bis zu den Amoritern –, die vom Wind der Geschichte verweht wurden. An Gelegenheiten für den Untergang hat es wahrlich nie gefehlt: von der soft power der griechischen Philosophen und Wissenschaftler bis zu den Hammerschlägen der römischen Legionen. Von der drohenden Vernichtung durch Assimilation mit fremden Kulturen bis zur Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 durch Titus. Auf scheinbar wundersame Weise ist es nicht geschehen. Im September 1913 besucht Sigmund Freud, der gottlose Jude, Rom. Von dort schickt er einem Freund eine Postkarte vom Titusbogen, dem Triumphmonument zu Ehren des römischen Siegs über die Juden. Darauf notiert er: «Der Jude übersteht’s.» «Das römische Imperium ist gekommen und verschwunden», sagt Schama, «aber besucht man samstags eine Synagoge, kann man sie immer noch, die Worte des Talmuds.» «Was hat es auf sich mit diesen Worten?», fragt einer aus dem Publikum in der Londoner Cadogan Hall. «Haben Sie sich je gefragt, warum die Juden so argumentativ sind?», fragt Schama zurück. «Weil es zentraler Teil der ­jüdischen Religion ist.» Schama liebt die Bühne. In der Zeit der iPods und iPads wachse der Appetit auf Direktkontakt mit den Autoren, sagt er. «Face Time» nennt er die Liveshow vor seinen Lesern. Die Publikumsfrage nach den Worten gefällt ihm. Nun ist er in seinem Element. Der Untertitel seiner «Story of the Jews» lautet «Finding the Words» – die Worte finden. Und damit meint er nicht bloss die gedruckten Worte in der heiligen Schrift, sondern wie sie gesprochen werden. «Das hebräische Wort für ‹lesen› – qra – bedeutet förmlich ‹ausrufen›», erklärt Schama. Indem man die Worte laut liest, bleiben sie in Bewegung, am Leben. Darin, so Schama, liege auch ein Grund für das Über­leben seines Volkes. Der beste Beleg für das Geheimnis des Überlebens des Judentums, so Schama, finde sich im Talmud, dem Buch der Anweisungen, das instruiert, wie die Regeln der Thora im Alltag umgesetzt werden sollen. Es ist ein schier endloser Hypertext, kompiliert aus Stimmen von Hunderten Rabbinern, die sich obsessiv mit dem Dilemma des Post-Tempel-Judentums beschäftigten: Wie kann man jüdisch bleiben in einer nichtjüdischen Umwelt? «Die Interpretation und Kommentierung der heiligen Schrift endet nie, nichts ist jemals festgefroren», sagt der amerikanische Kritiker und Publizist Leon Wieseltier. «Eine Zivili­sation, die auf einem Gesetz basiert, wäre längst verschwunden, wenn sie nicht gelernt hätte, sich dem Wandel der Zeit anzupassen.» Aber die jüdische Zivilisation habe sich auf ­eine Art angepasst, die nicht die eigene Integrität verletzte. «Der Talmud wurde für eine endlose Zukunft geschrieben.» Dadurch sei er zum Grundstein geworden für die Wiedergeburt des Judentums im Exil. Doch Anpassung an die Zeit und an die kulturelle Umgebung allein garantierte nicht für das Überleben. Nachdem sie zum zweiten Mal ins Exil gezwungen wurden, brach das Zeit­alter des Christentums an, das den Juden im Kern feindschaftlich gesinnt war, ja in ihnen Gottesmörder sah. Genaugenommen war der Zusammenprall zwischen Juden und Christen ein Familienstreit. Paulus, der wichtigste Missionar der ­frühen Kirche, ist ein geborener Jude wie Jesus auch. Für ihn und die anderen Apostel ist das Christentum entweder universell oder nichts. Also beginnt Paulus die christliche Botschaft aggressiv von allen jüdischen Ketten loszusprengen. Wo Paulus aufhört, folgen ihm Kirchen­väter wie Chrysostomos alias «Goldmund» (349–407), der Erzbischof von Kon­stantinopel. Er macht sich zum Kronzeugen des christlichen Antisemitismus: «Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung.» Die Juden als Christusmörder – dieser Schuldvorwurf wird zu einem zentralen Stereotyp des christlichen Antijudaismus. Er wird die soziale Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung jüdischer Minderheiten bis in die Neuzeit rechtfertigen. Aber es gibt Orte, wo die Juden im Tageslicht leben dürfen. Man mag es heute kaum für wahr halten, aber vor tausend Jahren war ­Kairo eine der lebhaftesten jüdischen Gemeinden der Welt gewesen. Und dieses Phänomen ist keine Ausnahme. Am östlichen Mittelmeer blühen jüdische Kulturen, selbst im Herzen Arabiens, der Geburtsstätte des neuen, dritten monotheistischen Glaubens: des Islam. Mohammed weist seine Anhänger sogar an, ihre Gebete in Richtung Jerusalem auszurichten, nicht zuletzt weil er sich als Nachfolger der ­biblischen Propheten sah. Doch von religiöser Egalität kann auch hier keine Rede sein. Muslime behandeln Juden – und Christen – als Dhimmi (Schutzgenossen): toleriert, aber nicht gleichgestellt. Sie dürfen keine Gotteshäuser bauen, die höher sind als Moscheen. Sie dürfen keine Pferde reiten, bloss Esel und nur seitwärts, im Damensitz. Besondere Kleidungsstücke zur Kennzeichnung anderer Religionszugehörigkeit werden verordnet. Das gelbe Abzeichen, gelber Hut und Mantel, sind Erfindungen des Islam. Und es sind Muslime, die den Juden verbieten, Waffen zu tragen, wodurch sie Wegelagerern und Räubern wehrlos ausgesetzt sind. Im Schatten des Kreuzes Doch all das ist weit besser als – wie unter Christen – als Dämonen behandelt zu werden. Die überwältigende Mehrheit der Juden prosperiert unter muslimischer Herrschaft. Mehr als 450 Berufszweige stehen ihnen offen, von Käser über Wagenflicker, Polizist bis Gewürzhändler. Folglich ist es in Andalusien, im tiefen Süden Spaniens, unter der Umaijaden-Dynastie (8.–11.Jahrhundert), wo sich Juden entfalteten wie nirgendwo sonst in Europa. Doch ein gewaltiger Sturm wischt die Blüte bald aus. Die Reconquista, die christliche Rückeroberung der Iberischen Halbinsel, zieht von Norden herab. Derweil stossen aus dem Süden fundamentalistische Kriegerstämme aus Marokko vor. Eingeklemmt zwischen den Fronten, leiden die Juden unter der Intoleranz beider und werden langsam zerrieben. Im 13.Jahrhundert kollabiert die muslimische Herrschaft in Andalusien. Die Zukunft der ­Juden in Europa liegt von nun an im Schatten des Kreuzes. Aber wie die Aschkenasim, die Juden Nord­europas, bewiesen, ist es möglich, trotz aller Widrigkeiten unter Christen zu leben. Einige bringen es sogar zu blühendem Reichtum. ­Aaron of Lincoln zum Beispiel, ein jüdischer Financier und einer der reichsten Männer Englands. Die Lincoln-Kathedrale in Mittel- england, eines der bedeutendsten Werke der englischen Gotik, und sechzehn Abteien werden mit Aarons Geld gebaut. Für Kirche und Krone sind Juden wie Aaron die Instanz, die ja sagt: ja zu prunkvollen Gotteshäusern, ja zu Palästen. Gemäss dem Talmud dürfen Juden zwar nicht voneinander, wohl aber von Christen Zinsen nehmen. Das verschafft ihnen eine Sonderstellung in der von der mächtigen katholischen Kirche geprägten mittelalterlichen Gesellschaft, in der Zins als Sünde gilt und verboten ist. So raffgierig, wie sie gerne dargestellt werden, strecken Juden ihre Hände allerdings nicht nach dem Geldhandel aus. Die Optionen, die ihnen offenstehen, sind eng limitiert. Geldhandel ist eine der wenigen beruflichen Nischen, die den Juden überhaupt noch geblieben sind. Schon länger sind sie aus den Zünften ausgeschlossen und schrittweise entrechtet worden. Es blieben die Finanzbranche – wofür sie stigmatisiert werden – und vor ­allem die Domäne der Medizin. Christen kommen ebenso wenig wie Muslime ohne die jüdische Arztkunst aus. Doch geht etwas schief, ist der nächste Jude bestimmt nicht weit, der sich trefflich als ­Sündenbock anbietet. Als 1348 in ganz Europa Pestepi­demien ausbrechen, werden die Juden beschuldigt, sie hätten Brunnen vergiftet, und vielerorts auf dem Scheiterhaufen verbrannt, auch in Bern, Solothurn, Basel und Zürich. Die überlebende jüdische Bevölkerung wird des Landes verwiesen, und so gibt es in der Schweiz bis ins 19.Jahrhundert fast keine Juden mehr. Bei der Schilderung der antisemitischen Exzesse verfährt Schama wie oft in seinem Werk: furios eklektisch, indem er ein Feuerwerk an bewegenden Geschichten zündet. Wer in Schamas Erzählung allerdings Orientierung und Vollständigkeit sucht, wird enttäuscht. Historisch veranstaltet der beredte Historiker ein leidenschaftliches Potpourri, in dem man rasch den Überblick verliert, bis er wieder eine neue Figur aufleben lässt, die er anekdotenreich schildert. Nachmanides zum Beispiel, den jüdischen Arzt, Rabbiner, Philosoph und Dichter aus Katalonien. 1263 organisiert die Kirche einen öffentlichen Showdown zwischen Christen und Juden – bekannt unter den Namen Barcelona-Dis­putation. Es ist ein abgekartetes Spiel, bei dem sich die Christen von vornherein als Sieger wähnen. Doch es ist Moses ben Nachman alias Nachmanides, der in diesem Schauspiel zu Hochform aufläuft. Der Hintergrund des Spektakels ist ein Kerndilemma der Christen, mit dem sie sich seit Urzeiten konfrontiert sehen, wenn sie das Judentum attackieren: Sie können nicht das Alte Testament angreifen, schliesslich ist es die Basis des eigenen Glaubens. Folglich müssen die Juden als Zeugen des Wunders geschützt werden. Doch die Häresiejäger denken sich einen neuen «Trick» aus, um die verpönten Juden in eine ausweglose Situation zu drängen. Sie behaupteten, dass die Juden nicht länger Bibel-, sondern Talmud-Juden seien. Was war dieser Talmud, dieses mündliche Gesetz, überhaupt ausser einer Sammlung von endlosen Argumenten? Die Juden, so lautet der schicksalsschwere Vorwurf, hätten ihre eigene heilige Schrift verraten. Und durch diesen Verrat seien sie keines Schutzes mehr würdig. Doch damit ist für die Christen das «Judenproblem» noch nicht gelöst. So gering ihre Zahl sein mochte, die Juden stehen der Wiederkunft des Herrn im Weg. Natürlich kann man sie mit dem Schwert zwingen, ihrem Glauben abzuschwören. Doch das würde bei den ehrgeizigen Triumphatoren, die grosse Stücke auf die eigene Weisheit halten, einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Juden sollen nicht durch Gewalt, sondern durch ­Intelligenz bezwungen werden. So engagiert sich die Kirche in einem theologischen Schaukampf, um die Wahrheit des Christentums und den Irrtum der Juden zu belegen. In dem Spektakel legen sie Nachmanides dar, dass in der jüdischen heiligen Schrift die Ankunft des Messias vorausgesagt werde. Nachmanides hält dagegen: Wenn Christus der wahre Messias wäre, wären erstens alle Juden konvertiert, und zweitens wäre unmittelbar nach der Ankunft des Messias Frieden auf Erden ausgebrochen. Aber offensichtlich sei beides nicht eingetreten. «Schaut die Welt an», sagte er, «schaut das Leiden an.» Jesus könne folglich nicht der Messias gewesen sein. Game, set, match für Nachmanides! Die Schaudebatte zeigt im Kern den Unterschied zwischen dem messianischen Temperament von Juden und Christen. Das Problem der Juden ist, dass sie auf den Messias warten und warten, und er kommt nicht. Das Problem der Christen ist, dass er gekommen ist – und die Welt sich nicht verändert hat. Man könnte die jüdische Haltung auch als brillant pragmatisch bezeichnen. Letztlich ist sie ein weiterer Grund für die Zähigkeit ihrer Religion. «Die Juden werden die Dinge immer so arrangieren, dass sie nie am Morgen nach der Ankunft des Messias erwachen werden», sagt Wieseltier, «denn das Risiko einer Enttäuschung ist viel zu gross.» Nachmanides’ intellektueller Parforce-Auftritt nützt nichts. 1492 erlassen die katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragonien ein Ausweisungsedikt. Die Juden werden entweder zur Konversion oder zur Emigration aus Spanien gezwungen. Das sogenannte Alhambra-Edikt ist das Todesurteil für eine Koexistenz von Juden und Christen. «Die Juden taten, was sie immer ­taten», bilanziert Schama. «Sie packten.» In Marokko und Italien suchen sie eine neue Heimat oder in Ägypten und im Osmanischen Reich, wo der türkische Sultan die verstossenen Juden aktiv dazu aufruft, sich in seinem Reich niederzulassen, und den spanischen König verspottet, seine Kultur werde verarmen und die osmanische aufblühen. Schama, der Schamane An dieser Stelle endet Schamas erster Band ­seiner Judengeschichte. Die schlimmsten Torturen stehen den Juden erst noch bevor: Das erste Getto, das ghetto vecchio in Ve­nedig, unheilvoller Vorbote für kommende Tragödien, ist noch mit keinem Wort erwähnt. Ebenso ­wenig die Dreyfus-Affäre, Herzls Vision vom Judenstaat, geschweige denn der Holocaust, die Staatsgründung Is­raels und der Konflikt mit den Arabern, dem medial so viel Be­achtung geschenkt wird wie keinem anderen Ereignis in der jüngsten Weltgeschichte. Als die Juden 1492 vor Spanien in See stechen, müssen sie alles Materielle zurücklassen. «Aber es gab etwas, was man den Juden nicht nehmen konnte», schliesst Schama. «Ihre Sprache, ihre Musik, ihre Poesie, ihre reich gewürzte Küche und vor allem, in ihren Köpfen und Herzen, ihre Religion.» Es ist die Religion, die ihnen helfen wird, die dunkelsten Stunden zu überstehen. «In jeder Generation gibt es solche, die gegen uns aufstehen, uns zu vernichten, aber der Allmäch­tige beschützt uns vor ihren Händen», heisst es in ihrer heiligen Schrift. Ist es Teil der jüdischen Kultur, immer das Schlimmste zu erwarten? «Nein», meint Schama, «die Autoren der Bibel schrieben ihr Buch nicht, indem sie das Schlimmste annahmen, sondern sich auf die Möglichkeit vorbereiteten, dass es eintreffen könnte.» Das sei, wie jeder Jude wisse, ein grosser Unterschied. Schamas Werk ist nicht eine Geschichte aus einem Guss. Und er ist auch kein Analytiker. Er tippt die Kernthemen an, gibt aber selten ­eine umfassende Antwort. Er ist vielmehr ein Appetizer, ein Schamane unter den Geschichtenerzählern, der historische Ereignisse wie leckere Häppchen vors Publikum zaubert und dadurch Lust macht auf mehr. Manches Phänomen bleibt so unbeleuchtet. Wie, zum Beispiel, hat dieses kleine Volk von 13,5 Millionen Menschen – kaum zwei Pro­mille der globalen Bevölkerung – es geschafft, die Welt der Wissenschaft und Kultur derart zu bereicheren und ist so wahrlich zum Salz der Erde geworden? «Für diese Frage ist es jetzt schon etwas spät», winkt Schama ab. ­«Lesen Sie den zweiten Band, da werde ich ­alles auflösen.» (aus: "Weltwoche" vom 26.9.2013)
Posted on: Fri, 27 Sep 2013 09:09:31 +0000

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