Martin Leidenfrost 02.12.2013 | 06:00 Zu wenig Luft zum - TopicsExpress



          

Martin Leidenfrost 02.12.2013 | 06:00 Zu wenig Luft zum Atmen Ukraine Die Demonstrationen in Kiew haben nur noch bedingt etwas mit dem abgesagten EU-Assoziierungsvertrag. Sie zielen auf eine innere Kraftprobe im Zeichen des Nationalismus Zu wenig Luft zum Atmen Demonstranten halten die EU-Flagge vor dem Ministerkabinett in Kiew Foto: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images Ukraine, Moldawien, Georgien – drei osteuropäische Länder, sollten in Vilnius feierlich ihre Assoziierungsabkommen mit der EU hätten unterzeichnen. Doch das einzige Land von ökonomischem Gewicht sprang acht Tage vor dem EU-Gipfel ab – per Regierungsdekret. Die ukrainische Opposition tobt seither, schreit nach Amtsenthebung von Präsident Janukowitsch und Neuwahlen. Besonders in Kiew und Lemberg gibt es Dauermeetings wie 2004, Demonstranten greifen die Polizei-Sondereinheit „Werwolf“ an und werden zusammengeschlagen. Europa reibt sich verwundert die Augen. Seit 2008 hat die Ukraine über das 1.200 Seiten starke Abkommen verhandelt, über die weitreichendste Assoziierung, welche die EU laut Kommission überhaupt je abschließen wollte. Über Jahre herrschte in der politischen Elite von Kiew ein weitgehender Konsens über den Kurs in Richtung EU. Alles plötzlich nicht mehr wahr? Am Tag nach der Absage waren die Schlüsselspieler der ukrainischen Politik im Studio des Fernsehsenders Inter aufgelaufen. Da stand der Oppositionspolitiker Nr. 1, das schmächtige Professorenkind Arsenij Jazenjuk, Ersatzspieler für die in Charkow inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko, deren von der Regierungspartei abgelehnte Freilassung auf den ersten Blick die EU-Annäherung des 45-Millionen-Landes versenkt hat. Da stand außerdem in Jeans und Kapuzen-Sweater ein Schrank von Mann, Boxweltmeister Vitalij Klitschko, Oppositionspolitiker Nr. 2. Er entschuldigte sich für die Aufmachung, er habe gerade auf einer „Euro-Majdan“ genannten Demonstration gesprochen; Klitschkos vage Ausführungen von der „gestohlenen Hoffnung“ und seine endlosen Nachdenkpausen in der Satzmitte ließen einmal mehr an seiner politischen Begabung zweifeln. Da stand schließlich Oleh Tjahnibok, seit der jüngsten Parlamentswahl Oppositionspolitiker Nr. 3, ein aufstrebender westukrainischer Faschist, der sich in eine routinierte Tirade gegen Präsident Janukowitschs „Vaterlandsverrat“ hinein redete. Als Erster aber sprach der Autor des Absage-Dekrets, Premier Nikolaj Asarow. Er beteuerte, dass seine Regierung bezüglich der EU „nicht die Strategie, nur die Taktik geändert“ habe. Der weißhaarige Finanzexperte, für seine nüchterne Art bekannt, sprach todernst und beschwor in einfachen Worten die Dramatik der ukrainischen Wirtschaftslage. Nette Nothelfer Asarow führte dabei nicht einmal alle Fakten an. Denn die hochverschuldete Ukraine wird von den Märkten vor sich hergetrieben. So lancierte die Rating-Agentur Standard & Poor´s im Sommer, dass die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Staatsbankrotts bei 44,3 Prozent läge. Soeben wurde bekannt, dass nach einer Kalifornien-Reise von zwei Ministern ein einziger US-Fonds 19 Prozent der gesamten ukrainischen Staatsschuld übernommen hat. Der nette Nothelfer heißt „Franklin Templeton“ und hat schon prächtig an abgewendeten Staatspleiten in Irland und Ungarn verdient. Die Schulden beim russischen Gaslieferanten Gazprom betragen schon wieder 1,3 Milliarden Dollar. An düstere neunziger Jahre erinnert, dass der Staat sogar mit der Auszahlung von Gehältern und Renten in Rückstand ist. Asarow wirkte völlig authentisch. Er rechnete vor, dass der Ausfall von Ausfuhren nach Russland in diesem Jahr bereits 4,2 Milliarden Dollar betrage, während die Ukraine allein für die Anpassung an EU-Standards im nächsten Jahrzehnt 165 Milliarden Dollar aufbringen müsste. Er spricht offen aus, dass seine Regierung Brüssel im dramatischen Finish vor Vilnius um „Kompensation“ gebeten hätte. „Bei unseren Verhandlungen ging es um eine Summe von einer Milliarde Euro mit einer Laufzeit von sieben Jahren.“ Asarow fügte bitter hinzu: „Eine beeindruckende Summe, nicht wahr?“ Entscheidend sei aber der Brief des IWF gewesen, der Tage vor der EU-Absage in Kiew einging. Auch dem Währungsfonds schuldet das Land ein hübsches Sümmchen, 5,8 Milliarden Dollar werden noch 2013 fällig, neue Kredite gibt es nur gegen harte Auflagen. Asarow wandte sich direkt an das Publikum im Studio: „Der IWF verlangt von uns, dass wir die Gaspreise für die Haushalte verdoppeln! Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“ Der Premier wusste hier die Sympathie der Bevölkerung auf seiner Seite. Die Wohnnebenkosten, die in manchen osteuropäischen Ländern an die Höhe der Mindestrente heranreichen, sind sozialer Sprengstoff. Foglich schlug die Stunde des elegantesten Gentleman in der Runde. Oppositionspolitiker Nr. 4, der langjährige KP-Chef Petro Simonenko, kam zu Wort. Er hatte als Einziger immer schon die EU-Assoziierung und die Auslieferung an den IWF kritisiert. Dass die Ukraine keine Luft hat für die mit der Assoziierung verbundene Modernisierung, die im schlechtesten Fall nie und im besten in 15 Jahren Früchte trägt – das wusste man schon länger. Nur, warum kam die ukrainische Regierung acht Tage vor der Vertragsunterschrift darauf? Der Eindruck, dass der postsowjetische Teil Osteuropas in Richtung EU drängt, kann sich ohnehin nur mit Blick auf die Eliten einstellen. Gewiss, die EU-Zustimmung in Georgien liegt um die 80 Prozent, doch hat das Land seit dem Augustkrieg gegen Russland 2008 keine geopolitische Alternative. Der Handel des entlegenen Georgien mit der EU ist unbedeutend. Auf den Straßen und in den Investitionsbilanzen nimmt sich das Land eher als Satellit der Türkei aus. Georgien ist wie Moldawien ein angeschlagenes Agrarland, das nur Arbeiter und Wein exportiert, und den Wein auch nur dann, wenn der russischen Lebensmittelaufsicht gerade danach ist. In Georgien erwirtschaften die über 50 Prozent der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft arbeiten, einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von unter zehn Prozent. Ein negativer Rekordwert, der sogar das agrarische Elend Moldawiens übertrifft und nicht einmal im Ansatz EU-kompatibel ist. Anhaltendes Gewürge Moldawiens Landbevölkerung wiederum, die nach der Assoziierung von zollfreien EU-Importen hinweggespült zu werden droht, wählt die im Moment oppositionellen Kommunisten. Deren Chef Wladimir Woronin gelang vor zehn Jahren schon einmal, was die Ukrainer im Moment zu improvisieren scheinen – das Drehen der geopolitischen Orientierung über Nacht. 2003 stieß Präsident Woronin Russlands Wladimir Putin vor den Kopf und wandte sich der EU zu. Vergangenen Sonntag führte dann allerdings Oppositionschef Woronin eine Demonstration von 15.000 Menschen gegen die EU-Assoziierung an. Obwohl EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso den Moldawiern Visa-Freiheit ab 2015 versprochen hat, ist die moldawische Bevölkerung bemerkenswert gespalten: In Umfragen geben 60 Prozent an, sich nicht zwischen der EU und einer von Russland geführten Zollunion entscheiden zu können. Damit zurück zur Ukraine. Dort tendiert nur eine leichte Mehrheit zur EU, je nach Umfrageinstitut mit 40 bis 44 Prozent, während sich 30 bis 35 der Eurasischen Zollunion anschließen möchten. Nun wird das Wahlvolk zwar in keinem der betroffenen Länder gefragt, das Patt um Vilnius bildet sich aber in der Bevölkerung ab. Bleibt die Frage, wer trägt an dem Gewürge die größte Schuld? Schuldiger Nr. 1 ist die EU-Diplomatie, die sich zuletzt nur noch auf die Freilassung einer einzelnen ukrainischen Oligarchin versteift hat, als ginge es in der Ukraine sonst niemandem schlecht. Auch kulturell – siehe das misslungene Feilschen in letzter Minute – waren sich die ukrainische Führung und die Brüsseler Kommissare fremd geblieben. Schuldiger Nr. 2 ist Russland, das für die Ukraine eigentlich den natürlicheren Wirtschaftsraum darstellt. Allein mit einer Senkung des Gaspreises auf den Tarif der Zollunion würde die Ukraine jährlich zehn Milliarden Dollar sparen – das wäre die Rettung. Leider ist Moskau offenbar nicht fähig, natürliche Partner auch als solche zu behandeln, sondern triezt sie immer wieder mit unnötigen Handelskriegen wie zuletzt dem Importverbot für ukrainische Schokolade. Und Nr. 3? Klar, die ukrainische Elite selbst. Was an ihrer Politik Strategie und was Taktik ist, mögen Wahrsager analysieren. Kurze Zeit, nachdem er sein Land in eine neue Hängepartie geführt hatte, meldete sich Präsident Viktor Janukowitsch zu Wort und meinte. „Keiner stiehlt uns den Traum einer Ukraine der Chancengleichheit, einer europäischen Ukraine.“ Na, dann ist ja alles gut.
Posted on: Tue, 03 Dec 2013 18:20:29 +0000

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