Noch etwas aus "Die Vergessenen": Alle Straßen liefen - TopicsExpress



          

Noch etwas aus "Die Vergessenen": Alle Straßen liefen schlussendlich auf die aus strahlend weißen Holzbrettern gebaute Kirche zu. Das Gebäude stand auf einem weitläufigen Grundstück, mitten in der Stadt, so als wäre zuerst die Kirche hier gewesen und alles andere um sie herum gewachsen. Selbst bei strömendem Regen, in der Dunkelheit, war der hoch über die restlichen Häuser aufragende Turm nicht zu übersehen. Ganz oben, dort wo wohl die Glocken hingen, floss warmes, gelbes Licht aus einem schmalen Fenster. Doris nickte Frank anerkennend zu. Dieses Licht musste er von der Anhöhe aus gesehen haben. Manchmal beneidete sie ihren Mann um seine guten Augen. Die beiden Wanderer hasteten über die verlassenen Straßen hinüber zum weißen Lattenzaun, der den Vorplatz der Kirche vom Ort trennte. Das Tor war etwas höher als der Zaun, ebenfalls weiß und von einem hölzernen Torbogen überdacht. Frank sah zu seiner Begleiterin zurück und in seinen Augen lag ein Ausdruck den Doris kannte. Sie nickte kurz. Mühelos drückte er das doppelflügelige Tor auf und der Frau fiel ein Stein vom Herzen. Seite an Seite rannten sie den Kiesweg hinauf, bis unter das Vordach der Kirche. Doris lächelte. Endlich wieder im Trockenen. Vor ihnen, jenseits des Lattenzaunes, lag die Stadt und zum ersten Mal seit sie hier angekommen waren, konnten die beiden einen größten Teil davon überschauen. Dunkelheit. Wohin ihre Augen auch blickten. Schon auf dem Weg hierher war ihnen immer wieder aufgefallen, dass in keinem einzigen der anderen Häuser auf ihrem Weg Licht brannte und mehr als einmal beschlich Doris das Gefühl, in einer Geisterstadt umherzuziehen. Keine Autos die am Straßenrand parkten, keine vom Wind umgestoßenen Fahrräder, nicht einmal die ansonsten allgegenwärtigen Mülleimer. Gerne hätte sie in einige der Fenster geleuchtet um zu sehen, ob sie ebenso leer waren wie jenes, unter dem sie zuvor Schutz vor Wind und Wetter gesucht hatten. Doch Frank hatte ein forsches Tempo vorgegeben und im Grunde fand Doris das ganz in Ordnung, denn der Regen hatte kein bisschen nachgelassen, auch wenn die Blitze langsam Richtung Osten abzogen. „Zumindest sind wir jetzt vor Blitzschlag sicher“, dachte sie bei sich, sagte aber nichts. „Komische Kirche“, brummte Frank. Das Brett, auf dem in allen Kirchen, die Doris bisher gekannt hatte, aktuelle Ereignisse, Taufen, Eheschließungen, Beerdigungen, angekündigt wurden, war leer. Fast leer. Jemand hatte mit Kugelschreiber etwas hinzugefügt: „Das dritte Mädchen schläft im Wasser.“ Doris las die Worte, einen Sinn ergaben sie jedoch nicht. Kinder, beschloss sie, hatten sich wohl einen Scherz erlaubt. Frank strich sich das Wasser aus den Haaren. Ein wahrer Wasserfall prasselte auf die Holzlatten. „Hast du hier irgendwo ein Kreuz gesehen?“ Seine Frage, beiläufig gestellt, führte Doris vor Augen, was sie schon die ganze Zeit unbewusst gestörte hatte. „Nein, kein einziges“. Es gab nirgendwo auch nur ein einziges der ansonsten typischen christlichen Symbole. Nicht am Torbogen, nicht an der Kirche selber. „Komische Kirche“, wiederholte Frank, zog sich die Schuhe aus und entleerte einen kleinen See auf die Planken. Im Vergleich zum Tor am Zaun wirkte die Eingangstüre der Kirche selbst regelrecht klein auf Doris. Eine einfache Haustüre mit einer Klinke, gerade breit genug für eine Person. Entweder, dachte sie bei sich, war diese Kirche sehr schlecht besucht oder der Ort kleiner als sie dachte. „Wollen wir das wirklich“, tönte Franks Stimme ein paar Schritte von ihr entfernt, als Doris ihre kalte, nasse Hand auf die Klinke legte. „Deshalb sind wir doch hier, oder? Im Turm brennt Licht, also ist wahrscheinlich noch jemand dort oben. Vielleicht ein Messdiener oder Pfarrer.“ „Vielleicht hat man ja nur vergessen das Licht zu löschen“, brummte Frank. Sie schüttelte sich. Wasser spritzte in alle Richtungen. „Ich bin immer noch nass bis auf die Knochen, wir müssen raus aus diesen Klamotten.“ Frank dachte einen Augenblick über ihre Worte nach, auch an ihm rann dann das Wasser immer noch herunter und er fror, also nickte er. Doris‘ Herz blieb beinahe stehen, als die Türklinke Widerstand leistete. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen. Der Schließmechanismus krächzte erbärmlich, gab nach und die Türe sprang auf.
Posted on: Sat, 20 Jul 2013 11:18:11 +0000

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