Scheitern und finanzieller Ruin sind Tabuthemen in Deutschland. - TopicsExpress



          

Scheitern und finanzieller Ruin sind Tabuthemen in Deutschland. Der 2009 in Köln gegründete »Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen e.V.« unterstützt betroffene Menschen bei der Bewältigung ihrer wirtschaftlichen und psychologischen Krise. theo sprach mit dem Gründer Attila von Unruh. 1) Herr Unruh, als wir das Interview mit Ihnen zum Thema Insolvenz vorbereiteten, packte uns Redakteure die Angst. Was, wenn wir selbst mal in einer Ihrer Selbsthilfegruppe landen? Dann stellen Sie fest, dass Sie in bester Gesellschaft sind! Sie werden mit sehr unterschiedlichen Menschen ins Gespräch kommen, die alle etwas verbindet: ihre Insolvenz. Sie werden feststellen: es kann jeden treffen – egal, ob Sie Anwalt sind oder Angestellter, Unternehmer oder Hausfrau. Sie werden merken, wie gut es tut, sich in einem geschützten Rahmen mit anderen Betroffenen auszutauschen. Reden zu können, ohne für Ihre Situation bewertet zu werden. Das ist eins der größten Probleme: Betroffene werten sich selber ab und machen sich Vorwürfe, vereinsamen zunehmend. Die Gruppe lehrt, sich nicht als Opfer zu sehen, sondern das Schicksal anzupacken und neu zu starten. Viele merken, dass sie – auch wenn sie alles verloren haben – sogar etwas zu geben haben, indem sie Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen teilen können. Oder einfach nur, indem sie jemandem zuhören. 2) Jeder von uns kennt in seinem Bekanntenkreis jemanden, der in sogenannten prekären Verhältnissen lebt. Armut ist ein ständiger Begleiter – auch bei uns in Deutschland. Was ist eigentlich Armut? Ich habe sehr glückliche Menschen kennengelernt, die wirtschaftlich arm sind. Und sehr reiche Menschen, die in ständiger in Angst leben, ihren Besitz zu verlieren. Wie definieren wir Reichtum? Nur über Besitz? Oder geht es um ein Leben, das zufrieden und glücklich macht? Wirtschaftliche Armut kann viele Ursachen haben. Wir erleben es immer wieder, dass jemand vor einiger Zeit noch »normal« gelebt hat und dann in eine Situation der Überschuldung gestolpert ist. Neben Insolvenz sind Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod des Partners und Scheidung die häufigsten Ursachen und nicht Konsumschulden. Wer schon in prekären Verhältnissen lebt, kann sehr schnell abrutschen und aus eigener Kraft nicht mehr hochkommen. Da reicht es, dass die Waschmaschine kaputt geht und das Konto überzogen ist. Armut ist teuer! Unternehmer und Selbstständige geraten meist durch eine Verkettung verschiedener Ursachen in eine existenzbedrohende Lage, z.B. durch Kunden, die ihre Rechnungen nicht zahlen. Es gibt immer auch einen eigenen Anteil an der Krise. Es geht darum, diesen zu erkennen und daraus zu lernen. 3) Ist Armut ein Stigma? Unsere Gesellschaft ist nicht tolerant, wenn jemand aus dem Rahmen fällt und die Erwartungen an Erfolg und Status nicht erfüllt. Wir messen und vergleichen uns ständig, stehen im Wettbewerb – niemand will zu den Verlierern gehören. Wenn Menschen durch Armut soziokulturell ins Abseits geraten und ihnen dadurch die Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander verwehrt wird, führt das schnell zu Stigmatisierung. Auf der anderen Seite gibt Zugehörigkeit auch Sicherheit. Wenn alle arm sind, dann ist man Teil einer Gruppe. Dann will man nicht aus dem Rahmen fallen – ein fataler Weg, in Armut zu bleiben. 4) Haben Sie in Ihrem Leben bereits einmal Armut persönlich erfahren? Ich war als Unternehmer recht erfolgreich und habe mir nie Sorgen um die Zukunft gemacht. Nach meiner Insolvenz hatte ich alles verloren: Altersvorsorge, Lebensversicherungen, die Firma und meine Kreditwürdigkeit. Ich kenne jetzt beide Seiten. Macht mir das Angst? Manchmal ja, wenn ich an das Alter denke und weiß, dass ich keine Rente bekommen werde. Ich kann damit leben, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich mich immer aus eigener Kraft ernähren kann. Schwer war es für mich, dass meine Familie unter der Situation leiden musste. Als wir jeden Euro dreimal umdrehen mussten, nie etwas übrig war. Es war schmerzhaft, nicht mehr zu Geburtstagseinladungen zu gehen und aus Geldmangel selber niemanden einladen zu können. Zum Glück hat meine Frau zu mir gestanden. Sie hat mich ermuntert, mich ehrenamtlich zu engagieren und die Gesprächskreise der Anonymen Insolvenzler zu organisieren. Weil es mir eine Herzensangelegenheit war. 5) Wie geht es Ihnen heute? Vor zwei Jahren wurde mein Insolvenzverfahren abgeschlossen, aus meinem ehrenamtlichen Engagement ist ein Fulltime-Job geworden. 2009 habe ich den BV INSO – Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen e.V. gegründet und arbeite jetzt mit wunderbaren Menschen zusammen. Wir konnten bisher mehr als 8000 Betroffenen in unseren Gruppen helfen, die inzwischen bundesweit in 13 Regionalgruppen organisiert sind. Kürzlich habe ich ein Sozialunternehmen gegründet, in dem wir sehr persönliche Beratung für Unternehmer anbieten, die sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden. Dabei werde ich von Ashoka – der ersten und weltweit führenden Organisation, die Sozialunternehmer unterstützt mit einem Stipendium gefördert. 6) Was macht Armut mit dem Menschen? Enge. Das ist das erste Wort, das mir einfällt. Existenzangst, Perspektivlosigkeit. Armut mindert das Selbstwertgefühl, reduziert das Vertrauen in sich selbst und damit die Antriebskräfte, um aus der Situation wieder herauszukommen. Schlimm ist, wenn Kinder in Armut hineingeboren werden. Wenn sie ihre Potentiale nicht entwickeln können und schon nach der Einschulung zu den Verlierern in einem Schulsystem werden, das sie aussortiert, statt sie zu fördern. Viele finden nie raus, welche Talente in ihnen schlummern. Die Gesellschaft macht ihnen schnell klar, dass sie zu den Verlierern gehören. Das erzeugt Wut und Neid oder auch Resignation. So kommen sie kaum aus dem Teufelskreis heraus. Wir planen im bv inso für 2014 ein Projekt, in dem wir Jugendliche dabei unterstützen, Finanzkompetenz zu entwickeln. 7) Kennen Sie Menschen, die den Weg aus der Armut wieder herausgefunden haben? Ja – ich habe Menschen kennengelernt und begleitet, die es geschafft haben, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Sie haben Hilfe angenommen und geben jetzt etwas zurück, indem sie sich engagieren und ihre Erfahrungen teilen. Entscheidend ist, dass sie sich nicht als Opfer fühlen. Das ist ein tiefgreifender Transformationsprozess. Kürzlich kam ein ehemaliger Millionär in unsere Gruppe. Er hatte alles verloren und sich nach langem Kampf entschieden, alles wegzuwerfen, was er noch hatte. Er fuhr mit dem Fahrrad in ein Kloster, für längere Zeit. Als er zu uns kam, strahlte er Klarheit und Kraft aus. Er war durch einen Prozess der Transformation gegangen und hatte erfahren, dass Loslassen für ihn Freiheit bedeutet. Wir ermutigen unsere Teilnehmer, sich Zeit zu nehmen, den Verlust der Existenz zu verarbeiten. Viele schauen über Jahre hinweg bei uns vorbei – ich freue mich, wenn ich sehe, wie sie Schritt für Schritt ihr Leben wieder in den Griff kriegen. 8) Jesus Christus rät seinen Jüngern, alles stehen und liegen zu lassen, die Reichtümer zu verkaufen, um ihm nachzufolgen. Ist Armut der Weg in den Himmel? Das wäre eine billige Eintrittskarte in den Himmel – leider ist es nicht so leicht. Sie werden nicht einfach ein besserer Mensch, nur weil Sie nichts mehr besitzen. Die Worte Jesu zum Thema Reichtum und Armut dürfen nicht wörtlich auf die materiellen Bedingungen hin verstanden werden. Es geht um eine Geisteshaltung: Armut im Geiste bzw. »Besitzet als besäßet ihr nicht!« Wichtig ist, immer wieder zu prüfen, wie sehr man an den Dingen dieser Welt hängt und das Wesentliche aus den Augen verliert. Damit ist auch eine Parallele zu Buddha gegeben, der sagt, nur wer nicht anhängig ist, kann dem Kreislauf der Wiedergeburten entrinnen und zur Erleuchtung kommen. Die Botschaft heißt für mich, nicht an Besitz haften. Die innere Freiheit zu haben, nicht von materiellen Gütern abhängig zu sein. Zu lernen, loszulassen und zu teilen. Für mich geht es dabei auch um die Frage: bin ich bereit, zu geben ohne zu erwarten, dass ich dafür etwas zurückbekomme? 9) Niemand in unserer Gesellschaft kann sich vorstellen, freiwillig arm zu werden. Ist damit die christliche Botschaft nichts für uns? Armut ist kein christliches Ideal. Armut ist und bleibt ein Übel und sollte überwunden werden! Die Botschaft stellt dem Menschen die innere Freiheit vor Augen, die er sowohl als Armer wie auch als Reicher haben kann. Für ein gerechtes Zusammenleben zu arbeiten, ist entscheidend. Wir sollten Reichtum nicht verteufeln – es kommt immer darauf an, wie wir damit umgehen und was wir Gutes damit bewirken können. Es geht nach meinem Verständnis nicht darum, dass alle arm werden, sondern um die gerechte Verteilung von Reichtum in einer Gemeinschaft. »Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie unter alle aus, je nach dem es einer nötig hatte«. (Apg. 2,44ff ) Was wäre, wenn jeder Einzelne und wir als Gesellschaft diesen Satz als Handlungsanweisung für unser Leben begreifen würden? Gäbe es dann noch Armut? Vielen Dank für das Gespräch. Informationen Der Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen e.V. setzt sich für eine Kultur der zweiten Chance ein und verfolgt folgende Ansätze: ---- Prävention: Individuelle Beratung von Unternehmern und Selbstständigen zur Insolvenzvermeidung ---- Unterstützung: Moderierte Selbsthilfegruppen, Hotline für Betroffene und Informationsveranstaltungen ---- Neustart: Ausbildung von Insolvenz-Erfahrenen Mitgliedern zu BV INSO-zertifizierten Orientierungsberatern. ---- Potenzialanalyse und Zielfindung für UnternehmerInnen, die einen beruflichen Neustart planen. BV INSO – Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen e.V. Attila von Unruh T +49 (0)2295. 927 40 30 [email protected] anonyme-insolvenzler.de bv-inso.de theo-magazin.de/armut-ist-teuer/
Posted on: Mon, 01 Jul 2013 21:35:34 +0000

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