Sieg der Menschlichkeit Halina Birenbaum im Interview mit - TopicsExpress



          

Sieg der Menschlichkeit Halina Birenbaum im Interview mit Katarzyna Jekiełek Katarzyna Jekiełek: - Als heranwachsendes Kind haben Sie die Hölle des Zweiten Weltkrieges erlebt, angefangen im Warschauer Ghetto durch Majdanek, Auschwitz, Ravensbrück und Neustadt-Glewe. In dieser Zeit haben Sie auch Ihre engste Familie verloren. Was hat Sie bewogen, darüber zu erzählen. Man könnte meinen, einen solchen Albtraum würde man am liebsten aus der Erinnerung verdrängen... Halina Birenbaum: - Warum denkst Du das? Jeder Mensch, der irgendetwas im Leben erlebt, ob es Freude oder Trauer ist, möchte seine Erlebnisse und Erfahrungen mit Anderen teilen. Besonders Erfahrungen, die so außergewöhnlich sind. Für uns Juden war damals das Leben absolut verboten und vor allem für mich, als Kind. Ich hatte noch nicht einmal das Recht, im Konzentrationslager Auschwitz zu sein und schon gar nicht das Recht zu überleben. Ich war dort illegal… Überlebt habe ich zum Teil dank meiner Mutter, die schon im Ghetto ständig wiederholte: „Du bist 17 Jahre alt“. Das Schrecklichste war hier zur Normalität geworden. Also, wieso soll man nicht davon erzählen, das Erlebte mit Anderen teilen, jetzt in der normalen Welt neuer Generationen, meiner eigenen Kinder? Nach Majdanek haben sie mich zusammen mit meiner Mutter verschleppt. Dort, auf dem Platz, drückte sie mich unter ihrem Mantel an sich. Später jagten sie uns in den Duschraum, wo wir uns Häftlingskleidung anziehen mussten, um danach zur Arbeit zu gehen, um zu schuften, um weiterzuleben bis der Krieg vorbei geht…Plötzlich ist meine Mutter verschwunden. Sie haben sie in die Gaskammer verschleppt, und ich habe es nicht bemerkt. Wie könnte ich nicht über das Verschwinden meiner Mutter und unsere gewaltsame Trennung erzählen? Wieso soll ich nicht über diejenigen berichten, die vernichtet wurden, von denen keine Spur geblieben ist? Bereits im Konzentrationslager teilten wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse miteinander. In den wenigen Atempausen, auf den kleinen Pritschen eng umschlugen, stellten wir uns ständig die gleichen Fragen: Woher kommst du? Wie bist du hierher gekommen? Wie war deine Familie, hattest du Mutter, Vater, Geschwister? Wie lange bist Du schon hier, im Lager? Jede von uns sehnte sich danach, etwas über die eigene Familie zu erfahren. Möglicherweise hat man sie während der Arbeit oder in einem anderen Block gesehen? Die Menschen waren damals ständig auf der Suche nach Informationen über ihre Angehörigen. Trotz der schrecklichen und unbeschreiblichen Situation, in der sie sich befanden, erzählten sie ununterbrochen über ihre Erlebnisse – und nach dem Krieg erst?!... KJ: - Aber nach dem Krieg musste es schwerer sein über die Erlebnisse zu sprechen… HB: - Nein, nach dem Krieg war das, zumindest für mich, kein Problem. Es handelt sich um menschliche Erfahrungen, die in einer unmenschlichen Welt geschahen, verursacht durch gewöhnliche Sterbliche, die aus einer hoch entwickelten Kultur stammten. Diese Erlebnisse haben mich so viel Kraft gekostet, sie sind so tief greifend und grenzenlos, dass man darüber erzählen möchte, man muss es tun… Und sie ständig mit der heutigen Realität vergleichen und an die, die es nicht erlitten haben sowie an die kommenden Generationen weitergeben. Dass man es der Welt erzählt, danach sehnten sich die Verfolgten und Ermordeten aus den Ghettos und den Konzentrationslagern. Nach dem Krieg, noch in Polen, trat ich dem Kibbuz bei. Wir waren etwa 40 junge Leute. Jeder von uns hatte tragische Kriegserlebnisse hinter sich und war zur Vollwaise geworden. Gemeinsam tauschten wir Erinnerungen aus, verglichen unsere Schicksale. Zusammen lernten wir auch die hebräische Sprache und wie wir ohne unsere Familien weiterleben sollten. Als wir aus Europa nach Israel oder in die Vereinten Staaten emigrierten, um weit von den Folter- und Grabstätten (die Luft von Majdanek und Auschwitz, wo sich der Rauch der Verbrannten aufgelöst hat) unserer Verwandten, unserer Nation, ein neues Leben aufzubauen, wollten uns die dortigen Menschen nicht anhören, weil sie sich vor unseren Berichten fürchteten. Sie glaubten, wir wären nicht normal, weil wir trotz der erlebten Hölle normal geblieben sind… Wir, die den Holocaust überlebt haben, waren in ihren Augen schlecht. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil sie nichts unternommen hatten, um uns zu retten oder uns zu helfen, versuchten sie sich zu schützen, indem sie uns nicht zuhörten. Ihrerseits wurden wir oft mit verschiedenen Vorwürfen konfrontiert: Wer weiß, was ihr getan habt, um zu überleben. Vielleicht habt ihr den Deutschen geholfen zu töten und habt mit ihnen kollaboriert? Das ist natürlich auch vorgekommen. Bis heute behaupten die meisten Menschen: „Ich war nicht dort, also habe ich kein Recht zu urteilen, wer gut und wer böse war, weil ich nicht weiß, wie ich in solchen Situationen gehandelt hätte“. Seit Jahren versuche ich ununterbrochen diese Meinung zu bekämpfen. Es gibt immer eine Realität, unabhängig von den Umständen, in der man existiert und daher auch handeln muss. Der Eine ist gemein, der Andere würde sein Leben für jemanden opfern. Manche werden darauf sagen: Ich wäre nicht so gemein gewesen oder würde mich zumindest bemüht haben nicht gemein zu sein. Andere werden aber sagen: Ich weiß nicht, wie ich mich unter solchen unvorstellbaren Bedingungen verhalten hätte. Jedoch weiß jeder von uns, dass es wehtut, wenn man geschlagen wird. Es ist nicht schwer, sich das vorzustellen. Jeder kann sich vor Augen führen, was Hunger bedeutet, wenn man nichts zu essen hat. Was Kälte ausmacht, wenn man nichts zum Anziehen und keine warme Ecke zum Aufwärmen hat. Jeder begreift doch, was es bedeutet, wenn die geliebte Person stirbt oder von dir getrennt und vor deinen Augen getötet wird – all das kann sich jeder von uns vorstellen, weil solche schrecklichen Dinge in unserer Welt passieren, nur nicht so häufig wie damals in den Jahren der Vernichtung. Trotz allem machen es sich viele einfach, indem sie sagen, dass sie es sich nicht vorstellen können. Manche von ihnen wollen eigentlich dadurch nur betonen, wie schrecklich das gewesen ist, dass es unbeschreiblich ist! Ich versuche darüber zu sprechen, weil die Wahrheit manchmal sehr verzerrt dargestellt wird. Einmal z.B. hat jemand in Israel geschrieben, dass „ im Konzentrationslager Auschwitz als eine ausgefallenen Strafe eine Menge Zucker ins Essen getan und kein Wasser ausgegeben wurde“. Hier hat keiner Zucker bekommen und schon gar nicht als Strafe. Jeder Häftling hätte alles dafür getan, um so eine „süße“ Strafe zu bekommen… KJ: - Wie Sie bereits erwähnt haben, gab es eine Zeitlang die Tendenz, das Thema Holocaust zu meiden, vor allem in Israel. Aber Sie begannen sich mit Menschen zu treffen. Wie sahen die ersten Begegnungen aus? HB: - Überall gleich und überall traf ich auf Zurückweisung. Viele wollten nichts darüber hören, konnten sich das nicht vorstellen. Nach dem Krieg herrschte in Israel die Meinung vor, dass es besser sei, nicht viel über den Holocaust zu berichten, weil wir keine Helden gewesen seien, weil wir nicht gekämpft und unser Schicksal in die Hand genommen hätten, sondern widerstandslos in den Tod gegangen seien. Man befürchtete, dass unsere Erlebnisberichte über die Vernichtung den Kampfgeist unserer israelischen Jugend beeinflussen könnten…. Trotzdem habe ich vom Anfang an darüber gesprochen und diejenigen, die mir zuhörten, fassten ebenfalls den Mut, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Das habe ich bereits in den 50er Jahren in Israel und 1968 während meiner Begegnung mit Holocaust-Überlebenden in den USA erlebt. Viele der Überlebenden, die nach Israel kamen, wollten sich den hier Geborenen anpassen. Sie erzählten nicht einmal den eigenen Kindern, die nach dem Krieg geboren waren, über ihre Kriegserlebnisse. Erst auf unseren Treffen konnten sie sich öffnen und darüber berichten. Viele von ihnen schwiegen aber bis in den Tod. Heute sind mir ihre Kinder und Enkel dankbar, weil sie durch meine Erlebnisberichte über die schrecklichen Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern erfahren. KJ:- Ich denke, dass die starke Anziehungskraft Ihrer Erinnerung darin liegt, dass Sie über Ihre Erlebnisse, die voller Emotionen sind, direkt alle Ihre Zuhörer ansprechen. Ich glaube, es gibt keine Person, die unberührt bleibt. Jeder Zuhörer identifiziert sich mit Ihrem Schicksal und Ihren Erlebnissen. HB:- Du hast Recht, Kasiu. Vor allem die Jugendlichen. Sie sind noch am ehesten unparteiisch. Sie merken schnell, ob jemand sie auf irgendeine Art und Weise beeinflussen will, oder ihnen eine wahre Geschichte erzählt. Ich komme nicht, um sie zu belehren, sondern um mit ihnen meine Erlebnisse und Erfahrungen zu teilen. Sie selbst sollen darüber urteilen. Als erwachsene Person öffne ich vor ihnen mein Herz und berichte, ohne mich aufgrund meines Alters oder meiner Erfahrungen über sie zu stellen. Die Jugendlichen wissen das zu schätzen. Wenn ich zu ihnen spreche, fühle ich mich mit ihnen verbunden. Meine Erzählungen versuche ich verständlich, klar und interessant zu gestalten. Während dieser Begegnungen merke ich durch ihr Verhalten, dass sie Dort mit mir zusammen sind, mit dem kleinen Mädchen, das Damals kein Recht hatte zu leben. Heute möchten sie mich an sich drücken und beschützen. Sie vergessen aber, dass all dies schon lange her ist… Ich mache nämlich niemandem Vorwürfe, sondern erinnere lediglich und das ist ein Unterschied. Ich erinnere mich an mein erstes Treffen mit Schulkindern in Israel. Zu dieser Zeit wurde hier das Thema Holocaust gemieden. Die Lehrerin meines Sohnes hatte erfahren, dass ich als Kind während der deutschen Okkupation im Warschauer Ghetto und in den Vernichtungslagern, gewesen bin und bat mich in der Schule darüber zu erzählen. In dem Klassenraum waren Schüler der dritten, vierten und fünften Klasse versammelt. Es war für mich sehr schwierig, weil ich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit über meine Erlebnisse berichten sollte und dazu noch in hebräischer Sprache, die ich damals noch nicht gut beherrschte. Ich habe mich seit langem nicht mehr so gefürchtet… Die auf den Schulbänken und dem Fußboden in aller Enge sitzenden Kinder waren anfangs sehr unruhig und laut. Plötzlich sah ich vor meinen Augen das deutliche Bild einer solchen Schule im Warschauer Ghetto, die als Sammelplatz für die aus der Warschauer Umgebung ausgesiedelten Juden diente. Sie wurden hierhin in Todesangst verschleppt, und starben zusammengepfercht auf dem Boden vor Hunger, Krankheiten und Dreck…Mit voller Wucht spürte ich die damalige Furcht und die Hilflosigkeit. Aber ich bin doch hier, lebendig und frei, in einem hellen, von Sonnenstrahlen erfüllten Klassenraum in Israel!....Ich habe gedacht: Vor wem hast du Angst?. Es sind doch gewöhnliche Kinder, die ihre Freiheit genießen. Uns kann nichts mehr passieren. Ich habe tief Luft geholt und angefangen zu erzählen. Das habe ich bis heute fortgesetzt. Ich teile meine Erfahrungen mit allen und es ist mir egal, ob es Israeli, Deutsche, Polen oder andere sind. Überall hören sie mir mit dem gleichen Interesse und der gleichen Ergriffenheit zu. Sie begleiten mich auf meiner bedrückenden Reise in die Vergangenheit, die nicht nur die meine ist. Durch ihr Ausmaß und ihre Bedeutung gehören die Ereignisse von damals zur Geschichte der ganzen Menschheit. KJ: - Fühlen Sie den Deutschen gegenüber keinen Hass? HB: - Nein, ich fühle keinen Hass. Ich empfinde nur Schmerz und vermisse die, die sie mir genommen und getötet haben. Es tut weh, wenn manche Deutsche wieder den Rassismus und Neonazismus verbreiten möchten, und versuchen die Spuren der ungeheuren Verbrechen, die ihre Landsmänner in der Zeit der Gaskammern und der Verbrennungsöfen begangen haben, zu verwischen. Spuren einer Zeit, in der man wegen der Zugehörigkeit zur bestimmten Nation getötet wurde. Wenn sie mich verletzen, und es gibt bis heute welche, die mir wehtun können, so ist es umso schlimmer für mich, weil es noch einmal von ihnen kommt, von den Deutschen!... Aber ich kann zwischen gestern und heute unterscheiden, ich verirre mich nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich weiß, wo ich damals war, und wo ich heute bin. Viele der Holocaust-Überlebenden sind der Meinung, dass man zu den Deutschen keinen Kontakt pflegen sollte, geschweige denn nach Deutschland reisen. Ich dagegen bin der Meinung, dass das Festhalten an Hass- oder Rachegefühlen dazu führt, dass das Böse uns vergiftet. Die Kinder und Enkel tragen keine Schuld an den Taten ihrer Väter und Großväter. Aber sie müssen darüber bescheid wissen und Verantwortung angesichts der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übernehmen. Als sie uns im Januar 1945, nach tagelangem und pausenlosem Todesmarsch fast verhungert (damals haben wir uns von Schnee ernährt, sofern man noch die Kraft hatte, eine Handvoll Schnee vom Boden zu heben. Die Schwächsten von uns wurden von den am Wegrand postierten Deutschen erschossen. Beinahe hätte auch ich das Schicksal der Toten geteilt, weil ich keine Kraft mehr hatte, weiterzugehen…) in einen Zug zum nächsten Konzentrationslager nach Deutschland gepfercht hatten, nahm ich mir vor, falls ich überleben sollte, wieder hierher zu kommen, um ihnen in ihren schönen Häusern darüber zu erzählen, wie sie uns alle und alles weggenommen, getötet und verbrannt haben. 1989 erhielt ich die Gelegenheit dazu. Nach 50 Jahren besuchte ich Berlin im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe meines Buches „Hoffnung stirbt zuletzt“ und der Premiere des israelischen Films „Wegen des Krieges“. In dem Film nahm ich zusammen mit meinem Sohn teil, einem bekannten Autor zahlreicher Liedertexte und mit einem berühmten israelischen Komponisten und Sänger, dessen jüdischer Vater ebenfalls ein Überlebender des Ghettos Saloniki, Auschwitz und anderer deutscher Lager war. Auch der Vater diese Sängers erzählte in dem Film über seine Erlebnisse. Seitdem war ich oft in Deutschland und habe dort viele treue und herzliche Freunde. Einige Jugendgruppen aus Deutschland habe ich sogar in meinem Haus in Israel empfangen. Das war sowohl für sie als auch für mich jedes Mal eine außergewöhnliche Erfahrung. KJ:- Jetzt sind Sie in Auschwitz. Auf der einen Seite ist das der Ort Ihrer Leiden, Folter… HB: - Aber gleichzeitig ist das der Ort meines Sieges über den Tod, die Bösartigkeit und die Brutalität unserer Peiniger und unserer physischen und psychischen Leiden. Ich war jedoch nie gemein, habe nie gestohlen oder mich auf Kosten der anderen Häftlinge ernährt. Ich war stets bemüht, mich nicht zu erniedrigen, sondern ich selbst, ein menschliches Wesen zu bleiben. Lieber gab ich meine Suppenration meiner Schwägerin ab, die meine letzte Verwandte und weitaus weniger zäh und viel schwächer als ich war, als dass ich meine Hand nach einer zusätzlichen Ration ausgestreckt hätte, unter der Gefahr geschlagen und beschimpft zu werden. Ich habe meiner Schwägerin erklärt, dass wir genug zu essen haben werden, wenn wir hier rauskommen und wenn nicht, würde die zusätzliche Ration unseren Hunger auch nicht stillen können… Ich war damals 13 Jahre alt. Meine Schwägerin, die in Auschwitz-Birkenau innerhalb von drei Monaten zum menschlichen Skelett abmagerte, starb an Hunger und verschiedenen Lagerkrankheiten im Alter von 20 Jahren! KJ:- Woher haben Sie die Kraft geschöpft, trotz solcher Bedingungen Mensch zu bleiben? Damals waren Sie doch noch ein Kind. HB: - Bereits im Ghetto schrieb ich über die schrecklichen Wendungen in unserem Leben. Später schrieb ich sogar in Birkenau, auf kleinen, von Zementbeuteln abgerissenen Papierschnipseln, mit einem kleinen Bleistiftstummel, den ich während der Arbeit im Kartoffelkommando gefunden hatte…Ich habe das Schreiben als Flucht aus dieser Hölle benutzt, um glauben zu können, dass alles was ich erlebte unnormal und vorübergehend war. Dass das Leben und die Menschen auch anders sein können. Meine Notizen habe ich, sobald ich sie einer Freundin vorgelesen habe, sofort vernichtet. Einmal hörten sogar irgendwelche polnischen Zivilarbeiter (von außerhalb des Lagers) meine Aufzeichnungen und sie meinten nachdenklich, dass ich ein Buch darüber schreiben würde, falls ich überleben sollte. Auch dieser Zuspruch gab mir Kraft und Glauben. Zusätzlich schöpfte ich Kraft aus den im Warschauer Ghetto gelesenen Büchern. Damals hatte ich sehr viel gelesen. Mein älterer Bruder, Marek, wies mich auf die verschiedenen Werte in den Büchern hin, und später habe ich sie verinnerlicht und mich nach ihnen gerichtet... Inmitten des dortigen Lebens habe ich über eines die Kontrolle behalten: Ich konnte innerlich aber auch nach Außen hin so sein, wie ich es wollte: nicht drängeln, nicht betteln, nicht in Apathie und Depressionen verfallen, nicht im Dreck versinken und nicht in dem dort allgegenwärtigen und ewigen Matsch untergehen. Die dortigen Plagen habe ich auf meine eigene Art besiegt. Ich habe mich heimlich in die Waschbaracken geschlichen oder mich unter der Rinne mit Schnee gewaschen und ständig säuberte ich mich von dem Ungeziefer. Trotz des Hungers nahm ich nie Essen von einem Mann an, obwohl ich die Gelegenheit dazu hatte…Gerade hier, wo ich so viel Brutalität und Schreckliches gesehen habe, wollte ich nicht aufgeben. Nein, dachte ich, so bin ich nicht und so will ich nicht werden. Der Krieg würde vorbeigehen und alles zur Normalität zurückkehren. Hier, wo Tausende Menschen in den Tod gingen und nur Kleiderberge von ihnen übrig blieben, wo Rauch und Feuer mich umgaben, träumte ich wie die Welt sein würde, wenn alles vorbei wäre und ich überlebte…Diese Träume gaben mir Kraft, die Tage und Stunden in dem Grauen zu überleben und den Glauben an den Sinn des Lebens nicht zu verlieren, trotz Feuer und Rauch tausender verbrannter Menschen. Vielleicht konnte ich träumen und glauben, gerade weil ich ein Kind war- Kind und Greisin zugleich?... KJ: - Vielleicht war es Hoffnung? HB:- Ich hatte stets Hoffnung, solange die Qualen nicht jegliche Empfindung in mir ausgeschaltet hatten. Ich sah doch von Anfang an den Tod und wusste, dass ich kein Recht hatte hier zu sein, und vor allem das Lager als Jüdin und Kind lebendig zu verlassen. Gleichzeitig konnte ich mir aber nicht vorstellen, dass ich das nicht überlebe, dass diese Hölle nie zu Ende gehen würde. Ich glaube, dass Menschen immer auf etwas Gutes hoffen. Sogar heute warte ich darauf, dass unverhofft etwas Gutes geschieht, eine neue Befreiung…Damals habe ich oft nicht daran geglaubt, dass ich das überleben würde, aber gleichzeitig glaubte ich nicht an meinen Tod, an das Ende meiner Existenz, obwohl ich ständig damit konfrontiert war, mit dem Tod anderer und mit der Möglichkeit meines eigenen Todes . Aber der Tod ging an mir vorbei, das betrachte ich als ein unerklärliches Wunder, einen glücklichen Zufall. KJ: - Wie haben Sie ihren ersten Besuch in Auschwitz nach dem Krieg erlebt und was fühlen Sie heute, wenn Sie hierher kommen? HB: - Zum ersten Mal kam ich im Juni 1986 nach Auschwitz. Ich war nicht daran interessiert, mit einer Touristengruppe das Lager zu besichtigen, sondern sehnte mich danach, mit irgendjemandem aus der historischen Abteilung, aus dem Archiv zu sprechen. Ich fühlte, dass keiner von ihnen ahnte, auf welche Weise ich mit diesem Ort verbunden war. Schließlich erlebte ich diese ganze Hölle, und wollte meine Erlebnisse an sie weitergeben… Sie waren über mein Erscheinen als lebendiger Geist der Toten sehr überrascht. Sie haben mir mit einer unheimlichen Ergriffenheit zugehört und alles auf Tonband aufgezeichnet. Das dauerte ein paar Stunden. Dann fühlte ich mich plötzlich unwohl. Der Ort, meine Erlebnisse hier, das alles bereitete mir Übelkeit. Ich dachte, ich würde es nicht mehr schaffen, ein zweites Mal heil hier raus zu kommen... In dem Augenblick habe ich mir geschworen, dass falls ich dank eines erneuten Wunders hier lebendig rauskomme und nicht sterbe, ich nie wieder zu dem Thema und dem Ort zurückkehren würde. Dennoch setzte ich meine Erzählung fort, nachdem mich die Mitarbeiterin aus der historischen Abteilung, die meine Erinnerungen aufzeichnete, getröstet hat. Beim ersten Anblick des ehemaligen Lagers, der Baracken, des Stacheldrahts und der Wachtürme hatte ich den Eindruck, als ob ich einer Ewigkeit begegnen würde. Plötzlich sah ich die Bilder aus meiner Kindheit, aus dem Warschauer Ghetto, Leiden, Angst und Qualen, den verzweifelten Kampf ums Überleben, die tausendfachen Gefahren und den Tod in diesem Lager, den ganzen unbeschreiblichen Albtraum!... Ich konnte die hier verbrachte Zeit, meine Erlebnisse und Erinnerungen kaum in ihrer Ganzheit und Ewigkeit begreifen! Im Block 27 in Birkenau wollte ich auf meine Pritsche klettern, aber meine Beine versagten. Als ich das nächste Mal hierhin fuhr, wusste ich, was und wer mich hier erwartet. Jetzt besuche ich hier meine Freunde, und ich habe ihrer viele, insbesondere im Kreis der Mitarbeiter des Museums in Auschwitz. Ich glaube auch, dass ich hier noch immer etwas zu erledigen habe. Während meiner Aufenthalte in Polen begegne ich jungen Menschen in Schulen, und mittlerweile kann ich sicher sein, dass sie alle freiwillig zuhören. Und selbst wenn Antisemiten unter ihnen sind oder welche, die Juden nicht mögen, dann werden sie es mich nicht spüren lassen. Während dieser Begegnungen öffne ich ihre Herzen, und ich habe den Eindruck, dass alles was zwischen uns stehen könnte, Missverständnisse oder Bösartigkeit, verschwindet. Danach kommen sie oft zu mir, und umarmen mich. Ich habe viele wunderbare Erlebnisse mir polnischen Jugendlichen, aber nicht nur mit Jugendlichen und nicht nur mit Polen. Ich erzähle von der Vergangenheit, weil ich das nicht akzeptieren kann, dass das Leben einfach weitergeht, neue Generationen auf die Welt kommen, aber die Ermordeten vergessen werden. Durch meine Erzählungen bleiben sie in unserer Erinnerung. Das Erzählen meiner Erlebnisse fällt mir physisch aber nicht psychisch schwer. Alle diesen Erfahrungen werden wie in einer Schublade in meiner Psyche aufbewahrt. Dort bleiben sie für immer lebendig. Man muss nur wissen, wie man sie aus dieser Schublade herausholt. Gewöhnlich bin ich sensibel, und lasse mich schnell abschrecken, aber wenn ich über meine Erlebnisse berichte, verwandle ich mich vollkommen. Ich fühle mich dann unheimlich stark und erkenne mich selbst kaum wieder. Mit meinen Erzählungen möchte ich niemanden angreifen. Ich behaupte auch nicht, dass alle von uns Heilige und Opfer waren. Unter uns waren auch Verräter. Ich möchte auch niemandem die schmerzlichen Tatsachen vorenthalten, wie zum Beispiel die, dass ich meinen Vater das letzte Mal auf dem Umschlagplatz gesehen habe, als er von jüdischen Polizisten geschlagen wurde. Das quält mich bis heute. Weil ich den Menschen die Wahrheit über das Gute und das Böse berichte, unabhängig welche Nation es verursachte (denn in jeder Nation sind die Menschen unterschiedlich), glauben sie mir und wissen, dass ich niemanden Vorwürfe mache, sondern vorurteilsfrei erzähle und erinnere. Sogar diejenigen, die gegen Juden sind, hören mir zu und kritisieren mich nicht. KJ:- 2001 wurde Ihnen von dem polnischen Rat der Christen und Juden der Titel „Mensch der Versöhnung“ verliehen. Was bedeutet für Sie die Auszeichnung und was machen Sie, um die Menschen zu versöhnen? HB: - Auf der einen Seite war ich sehr überrascht, weil ich mich bei meinem Vorgehen eigentlich nicht von der Idee der Versöhnung von Menschen und Nationen leiten ließ. Ich bin nur ein kleiner Teil des Ganzen und keine große humanitäre Funktionärin… Auf der anderen Seite fühlte ich mich sehr geehrt, weil man mich einer solchen Auszeichnung für würdig erachtet und weil mein Handeln als wichtig empfunden wird. Ich glaube, dass ich nicht viel für die Versöhnung der Menschen tun kann, weil ich weder über einen konkreten Plan zur Versöhnung der Menschen verfüge, noch einflussreich bin. Ich fahre herum, treffe mich mit Menschen, und teile mit ihnen die nackte Wahrheit, Botschaften und Erfahrungen, die ich Damals als Augenzeugin erfahren habe. Ich erzähle über schreckliche Ereignisse, und doch können die Menschen durch meine Berichte die Bedeutung und den Wert von Freundschaft, Aufopferung und Liebe – gerade in solchen grauenhaften Zeiten - besser begreifen und schätzen lernen. Niemand wird von mir verurteilt und ich versuche auch nicht, irgendwelche negativen Gefühle von Dort, der Auschwitzer- Hölle zu vermitteln. Im Gegenteil, ich versuche eher die positiven Gefühle herauszustellen. Dadurch wecke ich die Fähigkeit sich mit dem Schicksal der Verfolgten und Ermordeten zu identifizieren. Ich wecke Mitgefühl, aber kein erniedrigendes Mitleid oder gar Geringschätzung. Besonders den Deutschen fällt es schwer, sich in meine Leiden hineinzuversetzen. Einerseits möchten sie meine albtraumhaften Erfahrungen nachvollziehen, anderseits belasten sie Schuldgefühle, weil dieser Albtraum durch ihre Nation verursacht wurde. Ich kann mich nur mit Menschen versöhnen, die die Ereignisse, die während des Holocaust oder bei ähnlichen Verbrechen in der heutigen Zeit geschehen sind, nicht als normal betrachten und sie nicht totschweigen wollen. Über den Holocaust bin ich jederzeit bereit zu erzählen. Einmal habe ich geschrieben, dass „weder der Himmel noch die Erde, selbst in ihrer heiligsten Stille, das damalige Grauen und die menschlichen Qualen offenbaren und erklären können“. Das Geschehene zu vergessen oder zu verschweigen, würde für die Vernichteten ihren erneuten Tod bedeuten, und gleichzeitig bestünde die Gefahr, dass sich das Verbrechen noch einmal wiederholen könnte. Es gibt also keine Versöhnung, ohne die Erinnerung an die Vergangenheit. Ich bin aber imstande, hier im einstigen Auschwitz mit Deutschen zusammenzustehen, ihnen die Hand zu reichen, oder sie zu umarmen, wenn sie wie ich erschüttert und verzweifelt sind darüber, was hier geschehen ist. KJ: - Befürchten Sie nicht, dass alles vergessen wird, wenn die Zeugen nicht mehr da sind? HB: - Nein, das glaube ich nicht. Schon vor einiger Zeit, als niemand meine Erinnerungen hören, lesen noch herausgeben wollte, schrieb ich 1982 in mein Tagebuch: „es kommt noch der Tag, an dem ihr nach meinen Erinnerungen über Aschwitz fragen werdet, weil alles Böse, das jemals auf der Welt geschehen wird, hier seinen Ursprung haben wird, weil es hier erlaubt war, auf diese (ich finde keinen adäquaten Ausdruck, alle Worte sind dafür zu schwach) Weise Menschen zu quälen und zu töten“. Zahlreiche Erinnerungen, Bücher und Dokumente in allen Sprachen dieser Welt werden immer an uns erinnern… KJ: - Was möchten Sie den jungen Menschen während ihrer Begegnungen vermitteln? HB: - Ich möchte ihnen das vermitteln, was ich in jener Zeit erlebt habe, die eine enorme Bedeutung in der Geschichte der Menschheit hat. Der Holocaust ist, wie ich bereits erwähnt habe, etwas was die Menschheit bis dahin noch nicht kannte. Ich möchte das Besondere dieser Tragödie weitergeben, damit alle Menschen es begreifen. Ich möchte auch, dass die Ungeheuerlichkeit des Holocaust nie unterschätzt wird. Dieses Verbrechen sollte nicht mit anderen Verbrechen aus der Weltgeschichte der Kriege, Pogrome und Verfolgungen verglichen werden. Man sollte es nicht unterschätzen, aber auch nicht mit irgendwelchen kranken Fantasien ausschmücken, um Eindruck auf andere zu machen. Mn kann „Auschwitz - Kolyma-Hiroschima“ nicht in einem Atemzug nennen. Sie haben nicht die gleiche Bedeutung. Solche Vergleiche verringern die einzigartige Bedeutung und das Ausmaß des Genozids während des Holocaust. Jedes dieser schrecklichen Ereignisse war etwas anderes, und wurde aus unterschiedlichen Gründen begangen. Auschwitz- das bedeutete, etwas vereinfachend gesagt, eine systematische Menschenvernichtung wegen deren Anschauung. Juden aber wurden getötet, weil sie Juden waren. Ich kann damit nicht leben, ohne darüber zu erzählen. Solange ich kann, werde ich unermüdlich die Wahrheit berichten. Mein älterer Sohn fragt mich ständig:“ Warum kehrst Du immer wieder zurück, und sprichst darüber. Du kannst doch sowieso nichts ändern. Die Menschen hassen und töten sich nach wie vor“. Ich antworte ihm:“ Ihr organisiert Konzerte, singt wunderschöne Lieder, die so viele wertvolle Botschaften beinhalten. Das macht Menschen glücklich und eint sie“. Mit mir ist das ähnlich. In der einen Stunde, in der die Menschen mir zuhören, gelingt es mir vielleicht, ihre menschlichen Empfindungen zu wecken, so dass sie das Leben besser verstehen lernen und versuchen bessere Menschen zu werden? Ich will nicht die Welt, die Menschen oder ihre Gefühle verändern, weil ich weiß, dass ich es als Einzelne nicht vermag, aber ich will, dass sie wissen, was der Holocaust wirklich war! Ich wiederhole noch einmal, dass ich dies nicht tue, um zu belehren oder zu versöhnen. Ich gebe nur die Wahrheit weiter, weil ich dort war, und sie gefühlt und erlebt habe. Und wie ich haben auch viele andere Menschen dies erlebt und empfunden, die nicht überlebt haben. In dieser Hölle ging ich den Weg der Schwächsten und Ärmsten, aber ich bin ihn zu Ende gegangen und habe überlebt. Ich glaube, dass meine Treffen mit den Jugendlichen nicht umsonst sind. Wenn ich ihnen von meinen Erlebnissen erzähle, wirken sie irgendwie verwandelt. Sie schauen mich anders an, betrachten sich selbst und ihr Leben sowie ihre Umgebung mit anderen Augen. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich ihnen etwas schuldig, weil auch sie mir durch ihr aufmerksames Zuhören soviel von sich geben. Ubersetzung von Polnisch von Adrianna Harazim
Posted on: Thu, 18 Jul 2013 15:08:59 +0000

Trending Topics



Recently Viewed Topics




© 2015