So wäre es beispielsweise oft opportun zu lügen, um einer - TopicsExpress



          

So wäre es beispielsweise oft opportun zu lügen, um einer zeitlich begrenzten Beschämung zu entgehen oder um etwas zu erreichen, das einen unmittelbaren Nutzen für uns oder andere besitzt. Insofern jedoch die Kultivierung eines tiefen Gefühls der Wahrhaftigkeit zu den nützlichsten Dingen und die Schwächung dieses Gefühls zu den schädlichsten gehören, zu denen unser Verhalten führen kann, fühlen wir, daß die Verletzung einer Regel von solch übergreifendem Nutzen um eines gegenwärtigen Vorteils willen nicht opportun ist. Sogar eine ungewollte Abweichung von der Wahrheit trägt zur Schwächung der Zuverlässigkeit menschlicher Aussagen bei. Diese ist aber die Hauptstütze alles gegenwärtigen sozialen Wohlseins. Ihre Unvollkommenheit trägt außerdem mehr als ein anderer nennenswerte Fehler zur Verhinderung der Zivilisierung, der Tugend und all dessen bei, worauf das menschliche Glück größtenteils beruht. Wer um seiner eigenen oder eines anderen Bequemlichkeit willen dazu beiträgt, die Menschheit eines Guts zu berauben und ihr das Böse anzutun, das aus der größten oder kleineren Verläßlichkeit resultiert, die die Menschen in ihre gegenseitigen Versprechen legen, handelt wie einer der ärgsten Feinde der Menschheit. Daß aber gerade diese Regel, heilig wie sie ist, mögliche Ausnahmen erlaubt, wird von allen Moralisten anerkannt. Die wichtigste Ausnahme ist, wenn das Verschweigen einer Tatsache eine Person vor großem und unverdientem Übel retten und dieses Übel nur durch Verschweigen verhindert werden kann (wie wir einem Bösewicht eine Information oder einer schwerkranken Person eine schlechte Nachricht vorenthalten). Damit diese Ausnahme jedoch nicht mehr als notwendig verbreitet wird und auch nicht im geringsten zur Schwächung des Vertrauens in die Wahrhaftigkeit beiträgt, müssen wir sie erkennen und, wenn möglich, ihre Grenzen festlegen. Wenn das Nützlichkeitsprinzip für irgend etwas gut ist, dann muß es für das Abwägen dieser widerstreitenden Nützlichkeiten gut sein und den Bereich aufzeigen, in dem die eine oder andere überwiegt. aus: John Stuart Mill: Utilitarismus, 1861, übersetzt von Manfred Kühn, Hamburg 2006, S. 35 f.
Posted on: Sun, 27 Oct 2013 15:06:01 +0000

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