Türkischer Frühling? | Drucken | 07.06.2013 Ist das der - TopicsExpress



          

Türkischer Frühling? | Drucken | 07.06.2013 Ist das der türkische Frühling? Nein, zumindest noch nicht. Ist der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan der neue Mubarak? Nein, zumindest noch nicht. von Pepe Escobar Die Geschichte warnt uns beständig, dass es mithin nur einen Funken braucht, um ein politisches Fegefeuer zu entzünden. Die kürzlich aufgetretenen Funken in Istanbul wurde von einer kleinen Gruppe sehr junger Umweltschützer bereit gestellt, die ein friedliches Sit-in im Occupy-Stil auf dem Taksim-Platz organisierten, um gegen die geplante Zerstörung einer der wenigen verbliebenen öffentlichen Grünflächen im Stadtzentrum, dem Gezi Park, zu protestieren. Die Gezi Park-Zerstörung folgt einer weltweit getesteten Neoliberalismus-Gaunerei: er wird von einem Abbild ersetzt werden – in diesem Fall einer Replik der Osmanischen Artillerie-Baracken – , die, was sonst, ein weiteres Einkaufszentrum beherbergt. Es ist wichtig zu beachten, dass der Bürgermeister von Istanbul, auch von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), eine Einzelhandelskette besitzt, die einen satten Gewinn aus dem Einkaufszentrum zieht. Und der Mann, der den Zuschlag für diese “Sanierung” erhalten hat, ist nicht weniger als Erdogans Schwiegersohn. Wie vorauszusehen war, führte harte polizeiliche Repression dazu, dass sich den Demonstranten die Top-Kader der türkischen Hauptoppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), anschlossen. Und eher früher als später verwandelte sich das grüne Thema vom Taksim-Platz in ein “Nieder mit dem Diktator”. Am Samstag war der Taksim-Platz mit Zehntausenden von Menschen gefüllt; eine Vielzahl von ihnen war über die Bosporus-Brücke von der asiatischen Seite Istanbuls gegangen, indem sie auf Pötten und Pfannen im argentinischen Cacerolazo-Stil von 2002 schlugen und offen auf dem Gesetz gegen die Überquerung der Brücke durch Fußgänger herumtrampelten. Die Polizei schraubte die Repression mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Tränengas hoch. Das Verhalten der zumeist eingeschüchterten türkischen Rundfunkmedien war vorhersehbar erschreckend – vielleicht nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass 76 Journalisten im Gefängnis sitzen und wegen der Unterstützung von “Terror” und anderer nicht spezifizierter “Verbrechen” angeklagt sind. Dies kann auch als ein Spiegelbild der USA und NATO ob eines wertvollen Verbündeten interpretiert werden – wie in: “OK, zerschlagt ein paar Schädel, aber tötet niemanden”. Die Printmedien zeigten zumindest einige erlösenden Eigenschaften. Hürriyet – eine Zeitung, die einst Kritikfähigkeit übte – entdeckte etwas von seiner Würde zurück, indem sie Schlagzeilen wie “Erdogan nicht mehr allmächtig” druckte. Zaman – das Teil des Netzwerks der gemäßigten islamistischen Gülen-Bewegung ist – zeigte, wie besorgt man über Erdogan und die überwältigende Macht der AKP ist, indem man Leitartikel brachte, die sein “exzessives“ Verhalten verurteilten und die Demonstranten unterstützten. Währenddessen ist Ankara in den USA und der Europäischen Union nicht wirklich verurteilt worden – es gab nur die übliche, fade “Besorgnis”. Immerhin ist die Türkei das ultimative CNN-Posterland mit ihrer Marke des autokratisch ermöglichten Neoliberalismus (wie auch die Petro-Monarchien des Golf-Kooperationsrates). Heftig verurteilt – und mit Streiks bedroht – werden, ist das “Privileg” des Iran und Syriens. Wie passend, dass all das mit der “Sanierung” von Gezi Park begann. Dies ist jedoch nur ein kleiner Knotenpunkt in einer großen Planung – eine ganze Reihe von AKP-Mega-Projekten in ganz Istanbul, die völlig den Input der Zivilgesellschaft ausschließen. Die Türkei mag weltweit die siebzehnt größte Wirtschaft der Welt haben, aber sie ist 2013 nur um 3% gewachsen (auch wenn das viel besser als in Europa ist). Die AKP hat sicherlich bemerkt, dass das türkische Wirtschaftswunder auf tönernen Füßen steht, auf Erzeugnisse mit geringer Wertschöpfung beruhend, die stark von Märkten abhängig sind – in der Landwirtschaft, Kleinindustrie und im Tourismus. Hier folgt der Auftritt einer geplanten dritten Brücke über den Bosporus – die Teil einer neuen 2,6 Mrd. USD teuren, 260 Kilometer langen Autobahn ist, die Thrace mit Anatolien unter Umgehung von Istanbul sein soll und einen der wichtigsten Knotenpunkte der von der Europäischen Union unterstützten Europa-Kaukasus-Asien-Verkehrsachse (TRACECA) darstellt. Bei der Wahl 2011 eröffnete Erdogan seine Kampagne mit dem Anpreisen eines “verrückten Projekts”, ein 50 km langer Kanal vom Marmara-Meer bis zum Schwarzen Meer, um bis 2023 abgeschlossen zu sein – zur Hundertjahrfeier der Türkischen Republik – und bis zu $ 20 Milliarden zu kosten. Das Ziel ist nicht nur, den Bosporus zu entlasten, sondern auch, um neben dem Bau einer dritten Brücke und eines dritten Hafens die Achse Istanbuls in den noch nicht entwickelten Norden der Stadt zu verlagern. Das würde zwei neue Städte sowie einen dritten Flughafen umfassen. Die AKP hat diese ehrgeizige Politik als “urbane Transformation” beschrieben. Der Vorwand dafür ist das Risiko eines schweren Erdbebens – wie das im Jahre 1999. Für das, was auf eine große Immobilienspekulationsgoldgrube hinausläuft, verlassen sich Erdogan und die AKP auf zwei Behörden, TOKI und KIPTAS, die die Preise für den durchschnittlichen Türken viel zu hoch angesetzt haben. Das vorrangige Ziel ist die obere Mittelschicht, die für die AKP stimmt. Die AKP ist absolut von der Beherrschung Istanbuls besessen – das 85 der 550 Mitgliedersitze des Parlaments ausmacht (Ankara, die Hauptstadt, ist nur 31 Sitze wert). Erdogan und seine Kohorten haben seit 1994 an der Spitze des Großraums Istanbul gesessen, zu der Zeit als Mitglieder der Refah-Partei. Erdogan begann seine Eroberung der Türkei von der ehemaligen osmanischen Hauptstadt aus. Die von der AKP geförderten Großprojekte wurden als die ultimative Plattform für die aufstrebende Türkei in der Post-Globalisierung angesehen, auf maximale Art das Klischee einer “Brücke zwischen den Kulturen” melkend. Immerhin stammen 50% der türkischen Exporte aus Istanbul. Die städtepolitische Vermarktung dieser Mega-Projekte zielt auf die weltweite Glaubwürdigkeit der Türkei bei den üblichen Verdächtigen, den “internationalen Investoren”, ab. Sie haben nichts mit dem sozialen Zusammenhalt und dem Respekt für die Umwelt zu tun. Es ist fair zu behaupten, dass die Taksim-Platz-Bewegung die Auswirkungen dieser autoritären, Gewinn-hungrigen Logik der Entwicklung vollkommen begriffen hat. Erdogan hat widerwillig eingestanden, dass seine Polizei überreagiert habe. Doch kann er nichts Besseres, als den Demonstranten, die er als “Plünderer“ verhöhnt, vorzuwerfen, sie seien “mit Terrorismus verlinkt“ und hätten “dunkle Verbindungen“; ihr einziges Ziel wäre es, der AKP bei den Parlamentswahlen 2015 Stimmen zu kosten. Er prahlte, er könne eine Million Unterstützer der AKP für jeweils alle 100.000 Demonstranten auf die Straßen bringen. Nun, 5.000 von ihnen ist es bereits gelungen, Steine auf sein Büro in Besiktas zu werfen. Die Proteste haben sich schon nach Izmir, Eskisehir, Mugla, Yalova, Antalya, Bolu, Adana und sogar in AKP-Hochburgen wie Ankara, Kayseri und Konya ausgebreitet. Sie zählen Zehntausende Demonstranten. Indem Autohupen dröhnen und Bewohner auf Töpfe und Pfannen von Balkonen hämmern, um die Proteste zu unterstützen, die jetzt jeden Abend in Ankara und Istanbul (und sogar in den verschlafenen Wohngebieten auf der asiatischen Seite) vor sich gehen, kann dies Hunderttausende erreichen. Es besteht keine Frage, dass die Taksim-Platz- / Occupy Gezi- / Nieder mit dem Diktator-Bewegung schnell wächst und einen Querschnitt der säkularen Türkei umfasst, die den hoch personalisierten / autokratischen Mix aus Hardcore-Neoliberalismus und konservativer Religion von der AKP und Erdogan ablehnend gegenübersteht. Weltlich eingestellte Türken vermögen auch deutlich zu sehen, wie Erdogan versucht, alles aus einem dunstigen “Friedensprozess” mit der kurdischen PKK herauszuholen, was er kann, damit er genug Stimmen für ein Verfassungsreferendum bekommt. Das Referendum würde das parlamentarische System auslöschen und ein Präsidialsystem installieren – sehr praktisch, da Erdogans Amtszeit als Ministerpräsident 2015 ausläuft und er sich danach sehnt, als Präsident an der Spitze zu bleiben. Im konservativen Anatolien mag Erdogan eine solide Mehrheit haben. Aber er könnte auch mit dem Feuer spielen. Dies ist ein Mann, der vor über zwei Jahren rief: “Mubarak muss auf sein Volk hören” – und so sollte es auch Assad in Syrien tun. Nun lehnt die Mehrheit der Türken Ankaras “logistische Unterstützung” für die “rebellierenden” syrischen Banden vollkommen ab. Die Ironie-Kirsche auf dem Kuchen ist, dass Damaskus jetzt schadenfroh Erdogan warnte, die gewaltsame Unterdrückung einzudämmen, auf “sein Volk“ zu hören, oder zurückzutreten. Was kommt als nächstes? Erdogan installiert eine Flugverbotszone über Istanbul (oder die NATO installiert eine Flugverbotszone über Erdogan)? Die türkischen “Rebellen” erhalten direkte Unterstützung von Damaskus, Teheran und der Hisbollah? Damaskus fordert eine internationale “Friends of Turkey“-Zusammenkunft? larsschall
Posted on: Fri, 07 Jun 2013 10:03:42 +0000

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