Wie viele Freunde haben Sie zur Zeit? Das Kopfsteinpflaster ist - TopicsExpress



          

Wie viele Freunde haben Sie zur Zeit? Das Kopfsteinpflaster ist durch den Regen spiegelglatt geworden. Eine alte Dame, die mit gefüllten Tüten und Taschen die schmale Gasse überqueren will, rutscht aus und fällt mit dem Gesicht auf eine ihrer Taschen, die sie im richtigen Moment gerade noch schützend zwischen die Kopfsteine und ihrem Gesicht schieben kann. Sofort laufe ich zur Unfallstelle und beuge mich zu der Frau herunter. "Nehmen Sie meine Hand." "Ach, danke, Sie sind wirklich nett. Ich dachte schon, ich verfaule hier wie ein verwelkter Apfel." "Ach, was, für Apfelmus ist noch nicht die richtige Zeit", gebe ich mit Erleichterung über den schon wieder aufkeimenden Humor zurück." "Wo wohnen Sie? Ich begleite Sie gerne ein Stück, Sie sind ja voll gepackt, als würde morgen Krieg ausbrechen." "Krieg? Nein, meine Enkel kommen mich besuchen und als Oma muss doch der Kühlschrank voll sein. Ich wohne gleich drüben, ich schaffe es schon. Sagen Sie, ich kenne Sie doch woher. Sind Sie nicht samstags auf dem Markt und verkaufen Obst und Gemüse?" "Ja, ich arbeite für den Biostand, bei Sonja Hinterland." "Dachte ich es mir doch? Sie sind der Philosoph, der Fragen stellt. Richtig? Waren Sie denn erfolgreich?" "Nein, die Leute verstehen die Fragen als persönlichen Angriff, und die meisten sind verdutzt weggegangen." "Ja, die Menschen sind ängstlich in dieser Stadt. Hier dürfen Sie höchstens fragen, wann der nächste Bus kommt. Schade eigentlich, ich hatte eine Frage von Ihnen mitbekommen, musste aber gehen, weil ich es eilig hatte. Und dann war ich im Krankenhaus. Nierensteine, schmerzliche Sache sag ich Ihnen. Aber ich hatte Zeit, über die Frage nachzudenken und wollte Ihnen auch noch antworten. Aber jetzt sind Sie ja hier. Kommen Sie doch das Stück noch mit bis zu meiner Wohnung", und die alte Frau drückt mir eine Tasche in die Hand. Sie ist schwer wie Blei, als sei sie voller Konserven. "Wie viele Freunde haben Sie zur Zeit?", fragten Sie vor ein paar Wochen. "Ja, richtig.", gebe ich erstaunt zurück. "Wissen Sie, in meinem Alter hat man keine Freunde mehr, entweder sie sind gestorben oder sie haben vergessen, dass sie mit mir befreundet sind. Aber ich lebe damit ganz gut. Ich habe Enkelkinder. Das sind zwar keine Freunde, aber ich kann ihnen einen Kuchen backen und ihnen von meiner schmalen Rente ein Taschengeld geben. Das macht mich glücklich. So hier sind wir. An der Ölmühle 8. Hier wohne ich schon seit sechsundfünfzig Jahren. Ich werde hier bestimmt auch sterben. Wenn Sie wollen, kommen Sie doch nächste Woche zum Kaffee vorbei. Dann sind meine Enkel wieder weg und wem soll ich dann einen Kuchen backen? Und vielleicht haben Sie noch Fragen. Ich habe jedenfalls keine Angst. In meinem Alter braucht man sich vor nichts mehr zu fürchten. Die Angst ist ein Thema der Jugend. Ich war sprachlos und spürte ein intensives Gefühl von Gerührtheit. Und natürlich sagte ich zu, sie in der kommenden Woche zu besuchen. Sonja war verärgert über meine Verspätung. Sie habe alle Kisten selbst auffüllen müssen, obwohl sie sich um andere Dinge kümmern musste. Ich erzählte ihr von der Begegnung mit der alten Dame. "Das war bestimmt Frau Kupferstein, die alte Hure", lachte sie. Sie hat dich bestimmt zum Kuchen eingeladen und Du nimmst es persönlich. Aber bei ihr war schon die ganze Stadt, auch schon früher, wenn Du verstehst, was ich meine." An diesem Tag habe ich mit Sonja nicht mehr gesprochen. Ich war verärgert, schichtete stumm die Gemüsesorten um und gab das Wechselgeld ohne Kommentar an die Kunden zurück. "Heute schon gelacht?", frotzelte mich eine Frau in einem gelben Sommerkleid an, die einen Mangold kaufte, und die mich an Heidi erinnerte. "Nein, aber Sie haben mir ja auch keinen Witz erzählt", frotzelte ich widerwillig zurück. Ich fühlte mich an diesem Tag wie damals als Kind, wenn ich meinem Vater von einem Abenteuer erzählte, das ich am Tag erlebt hatte, und er hinter der Zeitung verkrochen einfach nur sagte, ich solle jetzt ins Bett gehen. Ich hatte damals schon angefangen, meine Erlebnisse aufzuschreiben und malte mir aus, als Erwachsener als berühmter Dichter in einem Schloss zu wohnen. Als mein Vater vor einigen Jahren starb, warf ich das Buch in sein Grab. Ich empfand dabei dieselbe Beklemmung wie heute. Die Kränkung eines begabten Kindes, erläuterte mir Golkin einmal den Schmerz, den ich immer dann empfand, wenn eine unempathische Äußerung auf eine frühe Verletztheit trifft. Sonja hatte mich um etwas beraubt, wie mein Vater mich um seine Anerkennung beraubt hatte. Am Abend kramte ich eine Postkarte aus der Sammlung von Golkin heraus und las seine Interpretation. Dann ging ich zu Bett.
Posted on: Sun, 08 Sep 2013 23:01:44 +0000

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