Wiedersehen mit Mary Lou Ein ziemlich warmer - TopicsExpress



          

Wiedersehen mit Mary Lou Ein ziemlich warmer Tag neigte sich langsam dem Ende zu. Dunkle Wolken bedeckten jetzt den beginnenden nächtlichen Himmel. Sie zogen nur langsam und gemächlich vorbei, als wollten sie damit beweisen, dass sie alle Zeit der Welt nur allein für sich hätten. In der Ferne tauchten in unregelmäßigen Abständen immer wieder heftige Blitze den wetterleuchtenden Horizont in ein gespenstisches Grau. Ein Gewitter kündigte sich an. Ich saß schon seit geraumer Zeit in meinem kleinen Garten unter einer alten, knorrigen Eiche und starrte mit traurigem Blick über die ruhige Wasseroberfläche eines nah gelegenen Badesees, der, von dichten Büschen und hohen Bäumen gesäumt, still und verlassen direkt unter mir lag. In unmittelbarer Nähe einer schmalen, hölzernen Anlegestelle dümpelten einige ankernde Segelschiffchen träge vor sich hin. Der Wind trieb kleine Wellen vor sich her, die im fahlen Restlicht des untergehenden Tages silbrig glänzten. Wie lange ich so dagesessen bin, weiß ich nicht mehr. Ich spürte auf einmal, wie sich die Umgebung um mich herum sukzessive auf geheimnisvolle Weise zu verändern begann, und ich wusste schon bald nicht mehr, ob ich träumte oder schlief. Auch hatte ich auf einmal das komische Gefühl, dass ich nicht mehr alleine war. Ich schaute vorsichtshalber herum. Der Blick meiner müden, halb geöffneten Augen war trübe und verschwommen. Doch halt! War da nicht etwas? Ich bemerkte auf einmal eine schattenhafte Gestalt, die schnell auf mich zukam. Im nächsten Moment war ich wieder hellwach. Dann erblickte ich sie. Ein schönes Mädchen saß plötzlich zu meinen Füßen und sah mich erwartungsvoll an. Erschrocken zuckte ich zusammen. Sie war nicht sehr groß, aber mir fiel sofort ihre gute Figur auf, die wohlgeformt war. Außerdem hatte sie lange schwarze Haare und die Konturen ihres schönen, makellosen Körpers wechselten ständig ihre Farben, die im Lichtspektrum des Regenbogens leuchteten. Erstaunlich, dachte ich, dass es so etwas überhaupt geben konnte. Hin und wieder zupfte sie an meine Hosenbeine, als wollte sie sich mit diesem aufdringlichen Verhalten unbedingt bemerkbar machen. Sie schaute mich intensiv an und ihre Augen verfielen dabei jedes Mal von einem goldenen Leuchten in ein glänzendes Schwarz. Ein gewisses Unbehagen stieg langsam in mir hoch, weil ich mir die ganze Sache nicht richtig erklären konnte. Zwischendurch rieb ich mir immer wieder ungläubig mit beiden Händen durchs Gesicht und blickte argwöhnisch zu der geisterhaften Erscheinung hinunter. Dann wollte ich etwas sagen, doch meine Stimme versagte. Ich bekam keinen einzigen Laut heraus, obwohl ich mich anstrengte und die Lippen unaufhörlich bewegte. Geduldig, ja fast mitleidsvoll, schien sie zu warten, bis ich sie endlich eindeutig und klar wahrnehmen würde. Und tatsächlich. Wie von selbst löste sich mein verzweifeltes instinktives Festklammern an den letzten Rest einer trügerischen Wirklichkeit, die nicht davon ablassen wollte, meine menschlichen fünf Sinne endlich ihrer irdischen Fesseln zu befreien. Nichtsdestotrotz ließ ich mich immer mehr auf das Spiel meiner Phantasie ein und je mehr ich das tat, desto klarer und deutlicher erschien mir das schöne Mädchen zu meinen Füßen reale Gestalt anzunehmen. Kaum war das geschehen, fing sie auch schon im gleichen Moment an zu sprechen. Offenbar kannte sie mich gut, denn sie duzte mich sofort. „Hm, ich habe den Eindruck, dass dich etwas bedrückt. Du siehst so traurig aus. Was ist mit dir los?“ Ihre melodische Stimme beendete mit einem Schlag alle meine Zweifel, dass ich vielleicht nur träumte. Ihre Gegenwart war keine Fata Morgana. Im Gegenteil. Sie war durch und durch real oder auf geheimnisvollem Wege irgendwie real geworden. Mir war das im Augenblick auch völlig egal. „Wer bist du? Woher kommst du?“ hörte ich mich fragen. Sie lächelte mich vielsagend an. „Ich komme aus einer längst vergangenen Zeit. Tja, und Namen gibt es viele, so viele, wie es Menschen auf der Welt gibt oder je gegeben hat. Meiner ist nur einer davon. Du darfst mich ruhig Mary Lou nennen. Aber nur, wenn du magst“, flüsterte sie mir mit leiser aber deutlich hörbarer Stimme zu. Ich lehnte mich verdutzt mit dem Rücken an den Baum und blickte hinauf in die mächtige Krone der alten Eiche, wo eine unendliche Zahl grüner Eichenblätter im Wind leise rauschten. Ich konnte mich des seltsamen Eindrucks nicht erwehren, dass sie mir wie kleine Kinderhändchen zuwinkten. Ich träume ja nur einen schönen Traum, dachte ich versonnen vor mich hin und suchte in dieser geheimnisvollen Situation nach Worten, fand aber keine. Mary Lou schaute mich die ganze Zeit an. Sie beugte sich dabei leicht zu mir vor. Unter ihren sanften Augen zeichneten sich leichte Schatten ab, und ihre schwarzen Haare fielen ihr plötzlich ins Gesicht, die sie aber sofort mit einer schnellen Handbewegung wieder nach hinten streifte. „Was wolltest du mir sagen? Sprich es aus!“ sagte sie zu mir mit aufforderndem Ton in ihrer sanften Stimme. Ich riss mich zusammen. „Wie bist du hierher gekommen?“ fragte ich sie noch immer etwas abwesend. „Ist das so wichtig für dich? – Ich musste einfach kommen. Ich wollte mich davon überzeugen, dass es dich noch gibt. Du erkennst mich anscheinend nicht. Deine Erinnerungen sind verblasst. Wir haben einige wunderschöne Jahre gemeinsam miteinander verlebt – und ich konnte mir nicht vorstellen, dass du mich vergessen hast. Gerne denke ich an die Zeit zurück, als wir noch zusammen waren und gemeinsam unser junges Glück genossen. Aber das ist schon lange her. Für dich fast eine Ewigkeit. Und kannst du dich noch an das schöne Lied erinnern, das dir immer so gefallen hat, weil es meinen Namen trug, den Namen Mary Lou?“ Ich erschrak jetzt bis in die letzte Faser meines alt und schwach gewordenen Körpers. Das junge Mädchen zu meinen Füßen war offenbar Mary Lou, meine erste große Jugendliebe. Eine Menge Fragen gingen mir kreuz und quer durch den Kopf. Ich war völlig verwirrt. Warum hatte ich sie nicht gleich erkannt? Ich schämte mich ein bisschen deswegen. Dann blickte ich konzentriert in ihr Gesicht und musterte sie von oben bis unten. Tatsächlich, sie war es. Sie sah immer noch hinreißend schön aus. Ihre schwarzen Haare waren so weich wie Seide, ihre Augen sahen mich verlockend an und ihr weicher Mund war leicht geöffnet, als erwartete er jeden Moment einen Kuss von mir. Aber Mary Lou war schon längst tot, schoss es mir plötzlich in den Sinn. Gestorben bei einem Autounfall 1969. „Du hättest nicht kommen sollen. Die Erinnerungen an diese schöne Zeit schmerzen mich noch heute“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Das weiß ich. Aber ich bin trotzdem hier, wie du siehst.“ Sie brachte ein Lächeln zustande und sah mir dabei abermals tief in die Augen. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck sprach sie weiter. „Ich war so einsam, so einsam wie du. Außerdem bin ich gekommen, um dir etwas zu sagen.“ „Dann sag’ es“, antwortete ich ihr. Sie stand auf und setzte sich spontan zu mir auf die hölzerne Gartenbank. „Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich all die zurückliegenden Jahre oft an dich gedacht habe. Ich habe dich immer geliebt. Leider habe ich das viel zu spät bemerkt. Weist du, damals war ich noch jung und unerfahren und du warst etwas Neues für mich. Und wir hatten ja auch unseren Spaß zusammen, nicht wahr? Wie oft habe ich an diese schöne Zeit zurückgedacht. Leider kam alles anders. Rückblickend muss ich allerdings zugeben, dass es wohl eindeutig an mir lag, dass unsere hoffnungsvolle Jugendliebe von damals in die Brüche ging. Wenn da nicht Frank gewesen wäre. Du weist schon, was ich meine...“ Ich nickte und in Gedanken erinnerte ich mich zurück an jene fernen, heißen Sommertage, wo ich mit ihr zusammen am Badesee lag. Das wundervolle kühle, grüne Wasser..., ihr junger, begehrenswerte Mädchenkörper. Wir umarmten uns. Aus dem Transistorradio erklang gerade das Lied Mary Lou, von Ricky Nelson. Wir küssten uns innig und lachten immer wieder darüber, dass sie den gleichen Namen hatte wie der Song, den wir hörten. Ein paar Jahre später lernte Mary Lou durch Zufall Frank kennen, der zu Besuch bei einem meiner alten Schulfreunde war. Als sie ihn das erste Mal sah, verliebte sie sich sofort Hals über Kopf in ihn. Ich bekam natürlich den Laufpass von ihr. Für mich war das eine besonders schmerzliche Erfahrung damals. Obwohl ich tief enttäuscht war, blieben Mary Lou und ich trotzdem gute Freunde. Die Jahre vergingen... Dann kam dieser verhängnisvolle Samstag im Juni 1969 schleichend und immer deutlicher werdend in mein Gedächtnis zurück. Auf der Autobahn brausten Hunderte von Autos vorüber, als gälte es, ein Rennen zu gewinnen. Auf den zwei gegenüberliegenden Fahrspuren das gleiche Spiel. Weder die Geschwindigkeitsbegrenzungen noch der strömende Regen störten die Fahrer bei ihrer wahnsinnigen Verfolgungsfahrt. Jeder starrte nur auf die weißen Linien und blieb hartnäckig in seiner eigenen Spur – wie es sich halt gehört für disziplinierte Ritter des Erdölzeitalters. Sie fuhren alle wie Automaten dahin. Mary Lou war mit ihrem neuen Freund Frank auf der total überfüllten Autobahn unterwegs. Er fuhr mit seinem alten Opel-Kombi auf der rechten Fahrspur. Ich immer mit meinem vollbesetzten VW 1200 hinterher. In meinem Wagen saßen alles ehemalige Schulfreunde von mir. Unser gemeinsames Ziel: eine bekannte Tanzbar im Ruhrgebiet. Plötzlich geriet das Fahrzeug unmittelbar vor Frank ins Schleudern, krachte in die Leitplanken und blieb hoffnungslos – oder Gott sei Dank? – darin hängen. Bruchteile von Sekunden vergingen. Mein Freund reagierte automatisch: Blick in den Rückspiegel, abbremsen und anhalten. Nicht ganz einfach bei dem Verkehr. Chaotisches Blinken und schrilles Gehupe der nachfolgenden Fahrer und Raser. Ich lenkte meinen VW vorsichtig an der Unfallstelle vorbei, schaute noch seitlich aus dem Fenster und sah, wie Frank und Mary Lou erschrocken aus ihrem Wagen stiegen. Dann geschah das Unfassbare, was keiner für möglich gehalten hätte. Im nächsten Augenblick wurden beide von einem schweren Sattelschlepper überrollt, der ungebremst von hinten in die Unfallstelle raste. Der Fahrer des LKW’s war wohl hinter seinem Lenkrad eingeschlafen. Frank und Mary Lou waren auf der Stelle tot. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich im strömenden Regen bis zur nächsten Notrufsäule weiter gefahren bin und sofort Hilfe geholt habe. Etwa Fünfzehn Minuten später waren Notärzte, mehrere Rettungswagen, die Polizei, die Feuerwehr, und was weiß ich noch alles, zur Stelle. Leider zu spät. Als die herbeigerufenen Bestatter Frank und Mary Lou später behutsam in die bereit gestellten Bergungswannen legten, stand ich einsam und verloren wie versteinert im Regen hinter der Autobahnleitplanke und weinte hemmungslos. Meine Tränen vermischten sich mit dem prasselnden Regenwasser. Das war das letzte Mal, das ich Mary Lou gesehen habe. Sie lag da, als würde sie schlafen. Auch jetzt ließ ich den Tränen wieder freien Lauf, die ich die ganze Zeit verbissen und voller Stolz zurückgehalten hatte. Dann hörte ich die Stimme Mary Lous. „Es tut mir alles so furchtbar leid. Ich war deine einzige große Jugendliebe und habe dich schrecklich enttäuscht. Wirst du dich jemals wieder mit mir versöhnen können? Ich hoffe es sehr. Ich möchte mit dir zusammen sein, so wie es früher einmal war. Vielleicht entdecken wir ja unsere Liebe neu und geben ihr eine neue Chance. Lass’ mich nicht zu lange in der Einsamkeit zurück. Ich gehe jetzt wieder. Folge mir einfach, wenn du es für richtig hältst. Tue es freiwillig und nicht unter Zwang. Das würde unserer Liebe nur Schaden.“ Ihre Worte durchdrangen mein Schluchzen. Ich hörte sie noch immer, auch als ich mich etwas später endlich beruhigt hatte und ganz still geworden war. Die Erinnerungen an Mary Lou wichen nur langsam zurück. Wieder veränderte sich die Umgebung. Ich saß immer noch auf der Gartenbank unter der großen Eiche und hatte nicht bemerkt, wie sich Mary Lou immer mehr auflöste und so plötzlich wie sie gekommen war, auch wieder verschwand. Am nächtlichen Himmel waren die dunklen Wolken mittlerweile verschwunden. Dafür leuchteten die Sterne am pechschwarzen Firmament wie funkelnde Diamanten um die Wette. Ich erlaubte mir nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass ich keiner Halluzination erlegen war, sondern mit Gewissheit erkannt hatte, dass es nun Zeit für mich geworden war, für immer zu gehen. Ich wollte mir meine große Liebe zurückholen. In dieser Welt konnte ich sie allerdings nicht finden, in der anderen schon, von der sie mir erzählt hatte. Langsam und schwerfällig erhob ich mich von der Bank, griff mit zitternden Händen nach meinem krummen Spazierstock, verließ den Garten und ging in dunkler Nacht mühsamen Schrittes hinunter an den einsamen Badesee. Am Ufer angekommen, winkte mir plötzlich Mary Lou aus der Mitte des Sees zu. Von irgendwoher drang die Melodie eines Liedes in meine fast taub gewordenen Ohren. “Hey, hey, hello Mary Lou, schau mich an, und sag mir bitte einmal, I Love You, Hey, hey, hello Mary Lou, lach mir doch zu, so wie ein Sonnenschein Mary Lou...“ Kein Mensch aus der Umgebung sah mich, als ich Schritt für Schritt immer tiefer ins Wasser ging, bis schließlich die silberfarbenen Wellen über meinem Kopf zusammenschlugen. In einer anderen Dimension, fernab jeder irdischen Realität. Als ich meine Jugendliebe Mary Lou endlich liebend in die Arme schloss, war ich auf wundersame Weise wieder zu einem jungen Mann geworden. ENDE © Heinz-Walter Hoetter
Posted on: Mon, 18 Nov 2013 20:55:11 +0000

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