WÜRDEST DU IHM AUFMACHEN ?* - Stellen Sie sich für einen Moment - TopicsExpress



          

WÜRDEST DU IHM AUFMACHEN ?* - Stellen Sie sich für einen Moment vor, es klopft an Ihrer Tür. Draußen steht ein schmaler junger Mann, randlose Brille, grau vor Müdigkeit, etwas Gehetztes im Blick. Der Fremde sagt: "Guten Abend, mein Name ist Ed Snowden, die Amerikaner sind hinter mir her. Kann ich mich bei Ihnen verstecken?" Was würden Sie tun? Die Tür zuknallen? Die Polizei rufen? Oder den Mann hereinbitten und das Gästebett beziehen? Klar – die Wahrscheinlichkeit, dass Ihnen so etwas passiert, geht gegen null. Edward Snowden, der weltweit gesuchte Informant, der die weltweite Überwachung des Internets durch britische und amerikanische Geheimdienste enthüllt hat, wird kaum nach Deutschland kommen. Hier wäre ihm das Risiko zu groß, verhaftet und an die US-Behörden ausgeliefert zu werden. Der Dreißigjährige steht allein gegen eine Supermacht. Und ist auf der Flucht rund um die Welt. Verdient Snowden Unterstützung oder Verfolgung? Ist er ein Held oder ein Verbrecher – was ist er, und wer ist er? Die USA drohen Ecuador mit Handelssanktionen für den Fall, dass das Land dem gesuchten ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden Asyl gewähren will. Video kommentieren "Ich mag meinen mädchenhaften Körper" Edward Joseph Snowden wurde 1983 geboren, in dem Jahr, in dem auch die Geschichte des Internets beginnt. Er lebt mit seinen Eltern und der Schwester zuerst in North Carolina, dann in Maryland. Sein Vater ist Beamter der Küstenwache, die Mutter Angestellte am Bezirksgericht. Die Nachbarn von damals sagen, Snowden sei ein ruhiges Kind gewesen, immer vor dem Computer. Gemeinsam mit Freunden baut er Rechner, auf denen sie japanische Computerspiele wie Tekken oder Final Fantasy spielen oder in der Welt der japanischen Anime-Comic-Filme versinken. Darin geht es vor allem um einsame Helden, die neben ihrer langweiligen bürgerlichen Existenz noch ein geheimes, aufregendes Leben führen. Im Jahr 2002 trennen sich Snowdens Eltern. Da hat er die Schule längst geschmissen, später bricht er auch den Informatikkurs an einem Community College ab. Und er ist stolz darauf. "Kluge Köpfe brauchen keine Universität: Sie bekommen, was sie wollen, und hinterlassen still ihre Spuren in der Geschichte", schreibt er in einem Onlineforum. In einem Profil präsentiert er sich als Narziss: "Ich bin arrogant und grausam, weil ich als Kind nicht genug umarmt wurde." Und: "Ich mag meinen mädchenhaften Körper, der die Mädchen anzieht." Zwei Jahre später meldet sich Snowden freiwillig zur Armee. Er habe die Menschen im Irak befreien wollen, erklärt er seine Entscheidung heute. Im Training bricht er sich beide Beine und wird ausgemustert. Er heuert als Wachmann bei einer Einrichtung an, die eng mit der Sicherheitsbehörde National Security Agency (NSA) zusammenarbeitet, und wird schließlich als Computerfachmann von der CIA angestellt. Mit der höchsten Sicherheitsstufe versehen, schickt ihn der Geheimdienst nach Genf. Da ist er 24 Jahre alt. Er hat bekommen, was er will. In Genf bleibt Snowden nur zwei Jahre. Eine ehemalige Bekannte, Mavanee Anderson, erlebt ihn dort als "unglaublich schlau, freundlich und ernsthaft". Aber er gerät auch in "eine Art innerer Krise". Snowden verlässt die CIA, wechselt zur NSA, geht nach Japan, später nach Hawaii, wo er mit seiner Freundin, einer Tänzerin, zusammenwohnt. Sein reales Leben sind kurze, rastlose Aufenthalte. Er hat ein geheimes zweites Leben begonnen. Ein Leben, das ihn zweifeln lässt an dem, was er tut und was ihn umgibt. 2010 schreibt Snowden in einem Onlineforum: "Die Gesellschaft hat offenbar blinden Gehorsam gegenüber Spionen entwickelt." Und er fragt: "Sind wir da reingerutscht, obwohl wir es hätten verhindern können, oder war es ein großer Wandel, der sich unbemerkt unter dem Mantel von Regierungsgeheimniskrämerei vollzogen hat?" Es scheint, als habe Snowden plötzlich sein Thema gefunden: Widerstand gegen die Großmacht. Seine einsamen Helden heißen jetzt Julian Assange und Aaron Schwarz, Hacker und Computer-Nerds wie er selbst. Seite 2/3: Die Enthüllung war über Monate geplant Edward Snowden weiß, dass auch er das Zeug zum Helden hat. Durch seine Arbeit für die CIA und die NSA hat er Zugriff auf Beweise für das, wovon Netzaktivisten überzeugt sind: dass Amerika ein Überwachungsstaat ist. Snowden beginnt seine große Enthüllung zu planen, akribisch, über Monate hinweg. Der Zeitung South China Morning Post gesteht er später, er habe bei der Sicherheitsberatungsfirma Booz Allen angeheuert, um gezielt an Informationen zum Überwachungsprogramm der NSA zu kommen. Im Januar 2013 schreibt er eine anonyme E-Mail an die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die an einem Film über Whistleblower sitzt. Er verrät ihr nicht, für wen er arbeitet, verspricht aber brisantes Material. Am 1. Juni trifft sich Snowden mit Poitras und zwei Journalisten des britischen Guardian in einem Fünf-Sterne-Hotel in Hongkong. Keiner der Besucher ahnt, dass dies die größte Geschichte ihres Lebens werden wird. Keiner von ihnen weiß, wer der Mann ist. Snowden will kein Geld, nur die Wahrheit "Gehen Sie in den dritten Stock des Mira-Hotels in Kowloon, und fragen Sie laut nach dem Weg", lautete die verschlüsselte Nachricht. "Sie erkennen mich an dem Zauberwürfel in der Hand." Snowden habe ruhig und intelligent gewirkt, erinnert sich Ewen MacAskill, der für den Guardian schreibt. Stundenlang lässt Snowden sich von den Journalisten ausfragen und erklärt die geheimen Dokumente, die er auf vier Laptops gespeichert hat; darunter eine Präsentation über das Programm Prism, die zeigt, wie die NSA die Daten von Facebook, Google und anderen großen Internetfirmen abfischt. Berichte des britischen Geheimdienstes GCHQ von 2009, die beweisen, dass ausländische Delegierte bei den G-20-Gipfeln ausspioniert wurden. Beschreibungen des Tempora-Programms, mit dem die Briten Internet-Glasfaserkabel anzapfen, um die gewonnenen Daten mit den Amerikanern zu teilen. Geld habe Snowden für seine Informationen nie verlangt, sagt MacAskill. "Als Systemadministrator bei den Geheimdiensten sieht man weit mehr als ein normaler Mitarbeiter", erzählt Snowden in dem Video-Interview, das ihn der gesamten Welt als Enthüller präsentiert. "Irgendwann stellt man fest, dass man Rechtsbrüche gesehen hat, und will darüber reden. Aber je mehr man darüber redet, desto häufiger wird einem gesagt, dass es doch nicht so schlimm sei. Bis man an den Punkt kommt, zu sagen, dass darüber die Öffentlichkeit und nicht Angestellte der Regierung zu entscheiden haben." Snowden hat sich für diese Aufnahme ein graues Hemd angezogen. Er spricht ruhig, doch sein Blick huscht oft zur Seite. Der Guardian hat den zwölfminütigen Clip vor drei Wochen veröffentlicht, die YouTube-Version wurde mehr als 1,6 Millionen Mal aufgerufen. Kaum jemand bestreitet, dass Snowden gegen Gesetze verstoßen hat. Er hat das Vertrauen seiner Arbeitgeber missbraucht. Die amerikanische Justiz hat vergangenen Freitag Anklage erhoben, wegen Diebstahls von Staatseigentum und wegen Spionage nach dem Espionage Act von 1917. Dieses Gesetz wurde im Ersten Weltkrieg erlassen, es ist weit gefasst und voller Gummiparagrafen, die auch US-Juristen bedenklich finden. Snowden droht die Todesstrafe Der Espionage Act stellt den Verrat von Staatsgeheimnissen unter Strafe, wenn er geschah, um den USA zu schaden oder fremden Mächten einen Vorteil zu verschaffen. Ein Spion wird also wegen Spionage angeklagt. Würde Snowden verurteilt, drohen ihm Jahrzehnte hinter Gittern oder gar die Todesstrafe. Ist das angemessen? Gerecht? Snowden und seine inzwischen zahlreichen Anhänger rechtfertigen sein Handeln mit den klassischen Argumenten des zivilen Ungehorsams. Das, was formal Recht ist, sei zum Unrecht verkommen. Der Ungehorsame habe gegen eine Regel verstoßen, um weit größeren Frevel offenzulegen. Das geltende Recht, das ihn kriminalisiere, diene nur dazu, das Überwachungsprogramm, also einen massiven Rechtsbruch der Mächtigen zu verschleiern. Was Snowden getan habe, sei womöglich illegal, aber notwendig und legitim. Tatsächlich hätte Snowden von seinem Wissen persönlich profitieren können. Er hätte geheime Daten an den chinesischen, den iranischen oder den russischen Geheimdienst durchstechen können, für Abermillionen Dollar. Aber Snowden hat etwas anderes getan: Er hat einen gut bezahlten Job und ein ruhiges Leben aufgegeben, um die Amerikaner und die ganze Welt aufzuklären, in welchem Ausmaß die US-Regierung und ihre Verbündeten Daten abschöpfen und speichern – ohne öffentliche Debatte, ohne echte parlamentarische und gerichtliche Kontrolle. Er hat damit eine globale Diskussion in Gang gesetzt, die lange überfällig war. Eine Diskussion über das Recht und die Freiheit, die letzten Endes im Interesse Amerikas liegt. Andererseits: Von nun an werden die Diktatoren in aller Welt auf Amerika zeigen, wenn der Westen sie wegen Bespitzelung ihrer Bürger kritisiert. Schon jetzt trumpfen chinesische Medien in ihrer Propaganda gegen den "Schurkenstaat Amerika" auf. Wer ist schuld daran? Wirklich Edward Snowden? Die Verteidiger der Überwachungsprogramme argumentieren: Abhören dient der Sicherheit. Mehr als fünfzig Anschläge seien seit 2007 verhindert worden, auch in Deutschland. Das gescheiterte Attentat auf den Bonner Hauptbahnhof soll darunter sein. Die Sauerland-Zelle, die im September 2007 aufgedeckt wurde, sei ebenfalls von den Abhörern entdeckt worden. Derlei Angaben lassen sich nicht überprüfen, denn alles ist geheim. Nicht einmal die deutschen Behörden wissen genau, woher all die Tipps stammen. Wahrscheinlich profitieren die deutschen Dienste von Programmen wie Prism und Tempora, wissentlich oder unwissentlich. Und selbst wenn die Zahl von 50 verhinderten Anschlägen stimmt – was genau hat die NSA beigetragen? Ist sie beim Lauschen einem Anschlag auf die Spur gekommen oder hat sie bloß Daten gesammelt, nachdem bereits ein Verdacht bestand? Fachleute halten Letzteres für wahrscheinlicher. Auch die US-Senatoren Ron Wyden und Mark Udall, beide Demokraten und Mitglieder des Geheimdienstausschusses des US-Senats, halten die Behauptung, die Überwachung habe Dutzende Terrorpläne verhindert, für "irreführend". Sicher ist hingegen, dass die Datensammelei viele Terrorattacken nicht verhindert hat: den Anschlag auf die U-Bahn in London 2005 zum Beispiel, bei dem 52 Menschen starben und über 700 teils schwer verletzt wurden. Im Vorfeld gab es reihenweise Telefonate zwischen Pakistan und Großbritannien, die offenbar niemand mitgehört hat. Oder Boston: Da hinterlassen zwei Brüder im Netz massenweise Spuren ihrer Radikalisierung und zünden am Rande eines Marathons Nagelbomben – wo waren da die Lauscher des Weltgeschehens? Seite 3/3: Wie lebt es sich als Staatsfeind? Und wie mag es jetzt Snowden ergehen? Wie lebt es sich als Staatsfeind im Untergrund? Julian Assange hat es in einem Buch erzählt: ständig unterwegs sein, nur mit Rucksack und ein paar Laptops, Übernachten bei Freunden, die eigenen Daten gut verschlüsselt auf sicheren Servern versteckt, so wenig Spuren im Netz hinterlassen wie möglich. Und irgendwann wurden WikiLeaks die Konten und die Kreditkarten gesperrt. Dass Snowden sein erstes Hotel in Hongkong unter dem richtigen Namen gebucht und mit einer Kreditkarte bezahlt hat – das spricht entweder für erhebliche Naivität oder für Kaltblütigkeit. Am Ende allerdings, das zeigt der Fall Assange, kann die Flucht nur gelingen, wenn sich ein Land findet, das den USA widersteht. Snowden ist das wohl klar. Gleich im ersten großen Interview mit dem Guardian sagte er, er wisse, dass er für sein Handeln werde zahlen müssen – mit seiner Freiheit. Vielleicht sogar mit seinem Leben. Anzeige Seitdem hat Snowden viele neue Freunde. Menschen, die ihn bewundern und ihm – so geschehen in Hongkong – ihre Wohnung als Unterschlupf anbieten. Menschen, die ihm aus politischen Gründen helfen, wie die Aktivisten von WikiLeaks, die ihm Flüge bezahlen und Reisedokumente aus Ecuador verschaffen. Es sind Menschen, die Edward Snowden ein paar Tage, maximal ein paar Wochen kennt. Doch er ist auf sie angewiesen: Er hat sich den denkbar größten Feind ausgesucht und zugleich keinen Plan für die Zukunft. "Ich glaube, er ist eigentlich ein Kind", sagte sein Hongkonger Anwalt Albert Ho der New York Times. "Ich glaube, er hatte keine Vorstellung davon, dass der Auslieferungsstreit in Hongkong so eine Riesensache werden würde." 30. Geburtstag auf der Flucht Als Ho seinen Mandanten aufsuchte, war Snowden gerade 30 geworden. Es gab Pizza, Hühnchen, Würstchen und Pepsi. Snowden bat Ho, sein Handy in den Kühlschrank zu legen, so könnten sie nicht abgehört werden. Die Aussicht, im Gefängnis keinen Zugang zum Internet zu haben, machte seinem Mandanten große Sorgen. "Wenn man ihm seinen Computer wegnähme, würde er es nicht aushalten", sagte Ho. Am Sonntag hat Edward Snowden Hongkong auf Drängen der Regierung verlassen. Er flog nach Moskau mit einer Vertrauten von Julian Assange. Bis zum Redaktionsschluss am Dienstagabend hielt er sich auf dem Moskauer Flughafen auf. Präsident Putin hat ihm zugesichert, er könne ungehindert weiterreisen. Dass Snowden ausgerechnet in Russland haltmacht, könnte damit zusammenhängen, dass sein Vorbild Assange im russischen Staatsfernsehen eine Talkshow hat und wohl auch Kontakte zum Kreml. Einer seiner Interviewpartner war der ecuadorianische Präsident Rafael Correa. Der gewährt Assange nun Unterschlupf in seiner Londoner Botschaft. Der WikiLeaks-Chef, von dem sich zuletzt immer mehr Unterstützer abwandten, erlebt durch Snowden sein Comeback – und beschädigt die Glaubwürdigkeit Snowdens, indem er ihn in Ländern wie Russland und Ecuador unterbringt: Kann ein Held des freien Netzes sein, wer bei denen Unterschlupf sucht, die die Pressefreiheit hassen? Snowdens Motive bleiben im Dunkeln Aber vielleicht geht es Snowden bloß noch ums Überleben. Bradley Manning schmachtet in einer amerikanischen Gefängniszelle. "An ihm konnte man sehen, wie die amerikanische Regierung mit Whistleblowern umgeht", sagt die WikiLeaks-Anwältin Jennifer Robinson, die nun Snowden berät. "Dem könnte es noch schlimmer ergehen." Edward Snowden will nicht, dass seine große Enthüllung damit endet, dass er ins Gefängnis geht. Laut dem Guardian- Journalisten Glenn Greenwald hat er verschlüsselte Kopien seiner Dokumente an verschiedene Leute gegeben: "Falls ihm etwas zustoßen sollte, werden sie dazu vollen Zugang bekommen." Es gehört zur Wahrheit dieses Falles, dass die Öffentlichkeit vieles nicht weiß. Und vielleicht nie erfahren wird. Snowdens Motive zum Beispiel. Warum ist er nach Hongkong geflohen? Hat er einen Deal mit China? Hatten russische Behörden Zugriff auf seine Laptops? Am Ende wird jedenfalls bleiben, dass Snowdens Enthüllungen uns allen gezeigt haben, in welcher Welt wir leben. Deshalb sollten Sie Ed Snowden die Tür aufmachen und ihm Zuflucht gewähren. Mindestens so lange, bis fest steht, dass er ein faires Verfahren bekommt.************************** zeit.de/2013/27/edward-snowden-leben/seite-1
Posted on: Wed, 03 Jul 2013 20:17:12 +0000

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