WamS: Nach dem 11. September haben Sie sich Gedanken über den - TopicsExpress



          

WamS: Nach dem 11. September haben Sie sich Gedanken über den Katastrophen-Sarkasmus gemacht. Hat das Ereignis Ihr Denken verändert? Sloterdijk: Natürlich nicht. Und wenn mir jemand versichert, dass er nach dem 11. September im Bereich der Philosophie anders denkt als vorher, streiche ich ihn sofort aus der Liste der ernst zu nehmenden Personen. Man kann als Intellektueller nicht behaupten, dass man im Rückblick auf das 20. Jahrhundert durch einen Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern plötzlich aus einem dogmatischen Schlummer erwacht ist. Ich glaube, die Katastrophenlandschaft des 20. Jahrhunderts einigermaßen zu überblicken. Der 11. September gehört da eher zu den schwer wahrnehmbaren Kleinzwischenfällen. WamS: Wir befinden uns Ihrer Meinung nach in der Tempo-30- Zone der Katastrophenskala? Sloterdijk: Ja. Und dass dieses Ereignis trotzdem eine große Sache wurde, spielt sich eher auf dem Feld der Sozialpsychologie ab. WamS: Inwiefern? Sloterdijk: Die Menschen haben ein neues Schicksal gefunden: Nach Politik und Wirtschaft ist es nun per definitionem die Verödung des Menschen. Das Recht, seine Befindlichkeit als moralische Weltnorm zu setzen, ist eine neue Macht geworden. Das ist auch impliziert, wenn Günter Grass sich ganz zu Recht dagegen auflehnt, an Debatten teilzunehmen, in denen das Gefälle zwischen Opfern erster und zweiter Ordnung für immer fixiert werden soll. WamS: Schröder hat nach dem Anschlag die "bedingungslose Bündnistreue" ausgerufen - war das richtig? Sloterdijk: Schröder hat diesen Rückfall in die deutsche Nibelungentreue ja längst bereut. Nur bei Ihnen, im Springer-Verlag, wurde dieses Bekenntnis in die Verträge aller Mitarbeiter aufgenommen und so eine latente Haltung ausdrücklich gemacht. WamS: Von "bedingungslos" steht bei uns nichts geschrieben - es geht um die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten. So viel dazu. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut erklärte, dass wir nach dem 11. September alle Soldaten unserer Zivilisation wären. Sloterdijk: Ich glaube, dass Philosophen, selbst wenn die Zivilisation in größter Bedrängnis wäre, ausgemustert werden müssten. Letztlich spricht Finkielkraut zivilisationstheoretisch die Sprache des klassischen Intellektuellen seit der Russischen Revolution: Der Intellektuelle ist derjenige, der den Einberufungsbefehl zu einem von der Mehrheit nicht erkannten Krieg absendet. Der Philosoph als Kreiswehrersatzamt des Weltgeistes, der uns in den noch geheimen Weltkrieg unserer Zeit einberuft. Aus diesem Grunde bin ich für die kontemplative Philosophie. Der kontemplative Philosoph kann alles machen - nur keine Einberufungsbefehle zur Geisterschlacht abschicken. WamS: Aber war das Attentat nicht ein Punkt, an dem das öffentliche Bedürfnis nach Erklärung legitimiert wurde? Müssen Philosophen da nicht um die Deutungshoheit streiten und die Rolle des kontemplativen Denkers aufgeben? Sloterdijk: Seit es Philosophie gibt, existiert ein erarbeitetes Schatzhaus an Distanzierungs- und Einsamkeitstechniken. Es ist nicht einzusehen, warum diese Techniken im 20. Jahrhundert unmöglich geworden sein sollen. Die Frage ist, ob man gleichsam Kontemplation und Karriere haben kann, ob Deutungshoheit und Rückzug einhergehen können - ich zweifle daran. WamS: Kann die Vita contemplativa überhaupt noch senden? Philosophen formulieren Ideen und damit Botschaften. Kontemplation scheint unter dieser Prämisse kaum möglich. Sloterdijk: Dazu würde ich mich auch bekennen. Botschaft muss sein. WamS: Das würde auch Jürgen Habermas so sehen. Sloterdijk: Er hat erkannt, dass ein paar kräftige Befehlssätze, die gut verschleiert sind, viel wirkungsvoller sind als die Einladung zur gemeinsamen Selbstreflexion. WamS: Was suchen Sie in der Philosophie? Sloterdijk: Nicht die Position des Außerhalb-Seins im absoluten Sinne. Aber man muss sich fragen, was man mit dem Hinweis auf den Interventionscharakter des Philosophierens will. Ich behaupte, dass gesellschaftliche Wirklichkeit ein Nebenprodukt von Sprachspielen darstellt. Oder: dass die Gesellschaft ein performativer Ballon ist, der durch die Ausatemluft starker Behauptungen aufgeblasen wird. Die Welt also nicht als Wille und Vorstellung, sondern als Behauptung und Übertreibung. Sloterdijk: Die Welt wird gedichtet durch Menschen, die den Nerv zu starken Behauptungen haben. Und diese Behauptungen werden in Dogmatiken gefasst. Eine der größten Übertreibungen, die je formuliert wurden, ist diese: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Nun konstituiert sich eine ganze Gesellschaft, indem sie sagt: Billiger als unter dieser Übertreibung machen wir es nicht. Letztlich handelt es sich um halb wahnsinnige Tiere, die beschlossen haben, unter dem Baldachin der Übertreibungen zu leben. Das ist meine Grundthese zur Seins-Frage. Wer in der Welt zu existieren hat, muss sich nach diesem Behauptungsspiel, dieser Grunddichtung der Welt erkundigen.
Posted on: Fri, 13 Sep 2013 21:18:32 +0000

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